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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele
Autoren: Thea Dorn
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Lärm. In der Euro-Schuldenkrise ist das Schlimmste überwunden. Doch gestürzt sind die goldenen Brücken und unten und oben so still! Es will mir nichts mehr glücken, ich weiß nicht mehr, was ich will. Von üppig blühenden Schmerzen rauscht eine Wildnis im Grund, da spielt wie in wahnsinnigen Scherzen das Herz an dem schwindlichten Schlund.
    Die Unruhen in der Brust gehen auch nach der Aussprache des Herzens weiter. Das Auswärtige Amt rät von allen nicht notwendigen Reisen ins Innere der Brust ab.
    Beim Bundesliga-Nordderby kam es zu Ausschreitungen, nachdem die Schwalbe sich zum Abendliede auf das Stänglein unterm Dach geschwungen hatte. Ordnungskräften gelang es, den Frieden im Feld und in der Stadt rasch wiederherzustellen. Die Schlachtenbummler konnten ohne weitere Zwischenfälle zum Bahnhof geleitet werden.
    Der schnelle Tag ist hin. Die Nacht schwingt ihre Fahn’ und führt die Sterne auf. Der Menschen müde Scharen verlassen Feld und Werk. Wo Tier und Vögel waren, trau’rt itzt die Einsamkeit. Wie ist die Zeit vertan! Der Port naht mehr und mehr sich zu der Glieder Kahn. Gleich wie dies Licht verfiel, so wird in wenig Jahren ich, du, und was man hat, und was man sieht, hinfahren. Dies Leben kommt mir vor als eine Renne-Bahn.
    Und nun die Wetteraussichten: Über allen Gipfeln ist Ruh’. In allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch. Die Vöglein schweigen im Walde. Warte nur, balde ruhest du auch.
     
    > Abendbrot, Feierabend, Heimat, Sehnsucht, Waldeinsamkeit

Abgrund
     
    Eben noch hatte der Deutsche festen Grund unter den Füßen. Er vertraute der Welt, vertraute sich selbst, seinem Können, seinem Mutterwitz, doch im nächsten Augenblick: alles weg. Die ruhige Gewissheit ins Nichts gerissen, der Boden schwankend oder gleich zum gähnenden Schlund geöffnet. Es geht ihm wie dem armen Soldaten Woyzeck bei Georg Büchner, der auf freiem Feld Stöckchen schneiden will, doch plötzlich aufstampfen muss, weil er spürt: »Alles hohl da unten.« Und wenn er seine Geliebte anschaut, die ihn betrogen hat (oder auch nicht), denkt es in ihm: »Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einen, wenn man hinabsieht.«
    »Die Welt oder wenigstens den Menschen an den Abgrund zu führen, war von jeher Sache der Deutschen«, schreibt der zu Unrecht vergessene Literat Friedrich Sieburg 1954 in seinem Essay Die Lust am Untergang. Und weiter: »Der Abgrund mochte schrecken oder locken, er mochte die Tiefe des eigenen Wesens sein oder den Untergang bedeuten, stets war der Deutsche bereit, Gedanken auszusprechen und in Umlauf zu setzen, vor denen es die Menschheit schauderte, sei es nun vor Wonne über ihre Größe oder vor Entsetzen über ihre Bodenlosigkeit.«
    Knapp vierzig Jahre zuvor, mitten im Ersten Weltkrieg, formuliert es Sieburgs Vorbild Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen noch knapper und störrischer: »Das Deutsche ist ein Abgrund, halten wir fest daran.«
    Festhalten am Abgrund: Gibt es einen Gedanken, der selbst abgründiger ist - und deutscher? Klüfte, Schlüfte, Schlünde, Grüfte - die deutsche Sprache läuft zur Höchstform auf, wenn es darum geht, das Bodenlose in den Begriff zu bekommen. Wie kein Zweiter kreist der wohl deutscheste aller deutschen Philosophen, Martin Heidegger, über den Abgründen des Denkens und Seins. Er verurteilt die Philosophie, die nach Letztbegründungen sucht, die hofft, ihre Sicherungshaken in irgendeiner unverbrüchlichen Idee vom Guten, Wahren oder Schönen einschlagen zu können. Der Philosoph muss den Schwindel aushalten, der ihn erfasst, wenn er erkennt, dass es keinen verlässlichen Grund gibt: »Das Seyn ist der Abgrund, darin erst die Not alles Grundlosen ihre Tiefe und die Notwendigkeit jeder Gründung ihre Gipfel hat.«
    Sätze wie dieser sind nicht geschrieben, um im schlichten Sinne verstanden zu werden. Denn Heidegger appelliert nicht an den Verstand, will nicht einleuchtende Gründe für oder gegen etwas benennen. Er appelliert an die tief sitzende Lebensangst, die sich der Mensch mit seinen alltäglichen Routinen und Versicherungssystemen sorgsam zugestellt hat: das Grauen, dass seine scheinbar stabile Welt einschließlich der eigenen Existenz jederzeit einstürzen kann. Und, noch trostloser: dass der Mensch auf die Frage, warum es ihm den Boden unter den Füßen weggerissen hat, keine sinnvolle Antwort erwarten darf. Die Anrufung des »Abgrunds« läuft auf nicht weniger hinaus als auf die Verabschiedung des Kausalitätsprinzips: Halte
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