Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele
Autoren: Thea Dorn
Vom Netzwerk:
dich nicht länger mit Grübeleien auf, aus welchem Grund etwas geschehen ist - lerne, mit dem Gefühl der Grundlosigkeit zu leben! Wie unerquicklich diese philosophische Haltung werden kann, wenn sie sich in die Politik hinauswagt, wird sich zeigen.
    Denker im Abgrund: Friedrich Nietzsche, 1899.Denker des »Abgrunds«: Martin Heidegger, 1933.
    Jede Religion versucht zu erklären, warum die Welt ist, wie sie ist - wie Gott/die Götter sie gut erschaffen hat/haben, und die Menschen sie pervertieren und mit entsprechenden Strafen rechnen müssen. Seit Piaton beteiligt sich auch die Philosophie an diesem erbaulich-kritischen Unterfangen. Heidegger macht endgültig Schluss damit. Der Philosoph soll der Angst vor dem nihilistischen Schlund nicht länger zu entkommen versuchen, indem er Gewissheitstürme errichtet, von deren Zinnen aus er die Lage zu überblicken glaubt. Im Gegenteil: Er soll sich mit Begeisterung in die Tiefe stürzen - das Leben im Sturzflug erfassen. Bis es an einer Klippe zerschmettert.
    In seinen Dionysos-Dithyramben lässt Friedrich Nietzsche, der deutsche Denker, der ein halbes Jahrhundert vor Heidegger dazu aufrief, mit dem Hammer zu philosophieren, einen Raubvogel höhnen: »Man muss Flügel haben, wenn man den Abgrund liebt.« Und Zarathustra, an anderem Ort noch als Verkünder des Übermenschen gefeiert, zagt das Herz. Er hängt fest, in sich, in der Welt, weiß, dass er den Sturzflug nicht überleben wird.
    Nietzsche ahnt wohl bereits, dass seine Versuche, das Nichts zu umarmen, bald dazu führen werden, dass er in Turin auf offener Straße einen geprügelten Gaul umarmt. »Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein«, schreibt er noch hellsichtig in Jenseits von Gut und Böse. Die eigene Warnung verhallt. Sein Geist verabschiedet sich ins unergründliche Dunkel des Wahnsinns.
    Aber geht er damit den riskanten Weg nicht konsequenter zu Ende als sein Nachfolger Heidegger, der - zumindest für kurze Zeit - glaubt, über den Abgrund ließe sich im Braunhemd hinwegmarschieren? Oder verfällt der Denker des »Abgrunds« der nationalsozialistischen Bewegung nur deshalb, weil er spürt, dass es sich bei der »Herrlichkeit und Größe dieses Aufbruchs«, die er in seiner berüchtigten Freiburger Rektoratsrede von 1933 beschwört, in Wahrheit und von Anfang an um jenes »wunderbare Sehnen dem Abgrund zu« handelt, wie es sein Idol, der andere im Wahnsinn verdämmerte Friedrich (Hölderlin), bei ganzen Völkern ausgemacht hat? Heidegger selbst widersteht dem letzten Sog der Tiefe, indem er immer wieder ins erdverbundene Dasein flieht: in seine einsame Hütte bei Todtnauberg im Schwarzwald, in der er selbst Holz machen und Wasser vom Brunnen holen muss.
    Doch auch dieser vermeintlich unabgründige Ort wird in den späten 1960er Jahren zum Schauplatz einer durch und durch abgründigen Begegnung: Paul Celan, der deutschsprachig-jüdische Dichter aus der Bukowina, dessen Eltern von den Nazis deportiert und ermordet wurden, besucht Heidegger in Todtnauberg. Was immer sich der Autor der Todesfuge von einer Begegnung mit dem Autor von Sein und Zeit erhofft hat - Gründe, warum sich Heidegger mit dem Faschismus eingelassen hat, bekommt Celan auch an jenem Ort nicht genannt, an dem der Philosoph so »gegründet« ist wie nirgends sonst. Stattdessen notiert dieser, dass es »heilsam« wäre, »Paul Celan auch den Schwarzwald zu zeigen«.
    Nun sind die Deutschen wahrlich nicht die Einzigen, die es in die Tiefe zieht, deren Geist durch die Vorstellung, unter der vertrauten Oberfläche lauere etwas, das sich kaum in Worte bannen lässt, ebenso erregt wird wie erschreckt. Die antiken Griechen vermuten den Hades im Erdinneren, Dante schreibt sich im ersten Teil seiner Göttlichen Komödie in immer tiefere Höllenkreise hinab. Doch weder vom griechischen Sänger Orpheus, der vergeblich versucht, seine geliebte Eurydike aus der Unterwelt ans Tageslicht zurückzuholen, noch vom italienischen Dichter werden diese unterirdischen Reiche sehnsüchtig oder gar hoffnungsvoll besungen. Bei aller Faszination bleiben sie Orte des Grauens. Auch Immanuel Kant, der klare Kopf aus Königsberg, spricht ohne Verlangen in der Stimme vom »Abgrund des Verderbens«.
    Je mehr die deutsche Seele aber zerfranst und sich vom Diesseits abwendet, ohne auf den Trost im himmlischen Jenseits zu setzen, desto mächtiger zieht es sie zum unterirdischen Jenseits, zum Abgrund hin, in dem alles möglich scheint. Wer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher