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Die Depressionsfalle

Die Depressionsfalle

Titel: Die Depressionsfalle
Autoren: Wilhelm Braumüller <Wien> , Alfred Springer
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Auch können Schmerzen in der Gallenblase bestehen. Neben dem Weinen oder auch nur einer Rötung der Augen tritt Nasenkatarrh mit oft gehäuftem Niesreiz, Brustkatarrh mit Husten und Giemen auf. Dies im Zusammenhang mit Schweiß, Schwächegefühl und Gewichtsverlust legt oft die Vermutung einer Tuberkulose nahe, löst sie auch manchmalaus. Die Bewegungsarmut kann sich zur Bewegungslosigkeit steigern: Stundenlang sitzt oder liegt der Kranke zusammengekauert da. Mienen- und Gebärdenspiel erlöschen. Das Gesicht ist zur leeren Maske erstarrt. Oft stieren einen die weit aufgerissenen Augen ohne Lidschlag wie geistesabwesend an. Beim Gehen hängen die Arme wie tot herab. Die Füße kleben am Boden.
    Leblos wie die äußere Erscheinung sieht es auch im Inneren des Menschen aus: selbst die Trauer ist erloschen. Keine oder nur spärliche Gedanken sind da, die monoton sich immer wieder aufdrängen; oft ist es die Erinnerung an irgendeine Kleinigkeit, ja Kleinlichkeiten, die mit dem Traueranlass recht lose zusammenhängen. Oft sind es völlig nebensächliche Dinge, oft sogar solche, die dem Trauernden ganz gegen das Gefühl gehen: freudige Ereignisse, Gassenhauer, Witze, unpassende Worte oder gar ekelerregende Situationen. Oft sind es Selbstmordgedanken, Schuldgefühle. Auch dreht sich das Denken um den Zustand, der selten als Krankheit, meist als aussichtsloses Leiden, als Quälerei für die Umgebung, als Schuld empfunden wird.“
    Obwohl die klassische endogene Depression unabhängig von äußeren Einflüssen als „endogenes“ Geschehen abläuft, kann man dennoch oft Situationen erkennen, die nicht als Ursache, aber als Auslöser dienen. Traurigen Ereignissen und Trennungen kommt bisweilen eine derartige Funktion zu, aber auch jeder Art von Veränderung im Familienleben und auf dem Arbeitsplatz, sowie Erkrankungen oder Belastungen aus dem Alltag, wie etwa Hausbau. In typischer Weise scheinen die Auslöser oft geradezu lächerlich unbedeutend, sie erscheinen als ein geringfügiger und „unvernünftiger“ Anlass: eine harmlose Erkrankung, wie Ohrfurunkel, oder eine scheinbar unbedeutende Kränkung, ein Streit mit dem Ehemann, eine schlechte Note in einem Zeugnis. Oft liegen die „Anlässe“ auch Tage, ja Wochen oder länger zurück.
    Von diesem Zustandsbild der „endogenen Depression“ bzw. der Melancholie grenzen sich die anderen Verstimmungszustände trauriger Natur ab. Diese nicht-melancholischen Zustände umfassen ein breites Spektrum von Störungen, das von milden Depressionen über Angstzustände bis hin zu Spannungsgefühlen und generellen Unlustgefühlen reicht. Sie entsprechen Zustandsbildern, die ganzfrüh als Neurasthenie und später unter dem Einfluss der Psychoanalyse als neurotische Depression beschrieben wurden. Diese beiden grundsätzlich differierenden Erscheinungsformen unterscheiden sich voneinander wie „Kalk und Käse“, wie der Psychiater und Psychiatriehistoriker Edward Shorter 2009 formulierte, der folgerichtig auch fordert, dass man trotz der Klassifikationssysteme auch weiterhin in der psychiatrischen Lehre und Praxis Depressionen vom melancholischen und vom nicht-melancholischen Typus unterscheiden soll, um den Patienten eine angepasste Behandlung zu garantieren.
    Damit bleibt Shorter der Tradition der klassischen Psychiatrie treu, die dem Umstand Rechnung zollte, dass im zeitlichen Zusammenhang mit einem Verlust ähnliche, aber wesentlich milder ausgeprägte Leiden wie bei einer Melancholie auftreten können, und die deshalb zu einer Unterscheidung der nicht-melancholischen Depression nach dem Schweregrad gelangte: Man differenziert zwischen leichten, mittelschweren und schweren Ausprägungen. Die klinische Erfahrung spricht dafür, dass es in bestimmten Bereichen Entsprechungen zwischen mittelschweren und schweren Formen gibt. Aber diese Differenzierung soll nicht die Erkenntnis des Wesens depressiver Störungen behindern: ob schwer, mittelschwer oder leicht empfunden: Alle depressiven Episoden weisen prinzipiell die gleichen Charakteristika auf; die Unterscheidung nach dem Schweregrad wird allgemein wegen der Konsequenzen für die Behandlung getroffen.
    Wichtig ist, dass auch milde, abgeschwächte Zustände, wie sie wohl jeder im Zusammenhang mit quälenden Sorgen oder einem wirklichen oder ideellen Verlust kennt, der oft nicht als ein
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