Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Depressionsfalle

Die Depressionsfalle

Titel: Die Depressionsfalle
Autoren: Wilhelm Braumüller <Wien> , Alfred Springer
Vom Netzwerk:
Verhaltenstherapie sehr gefragt. Die Entwicklung des Internet als Informations- und Kommunikationsmedium wird von der WHO positiv bewertet: Gut ausgewertete Interventionen seien zunehmend über das Internet zugänglich und ermöglichten einen Ansatz zur Selbsthilfe.
    Ein Anliegen ist es der WHO, die psychosozialen Dienste in allen Mitgliedsstaaten dazu aufzurufen, ihre Funktion im Dienste der öffentlichen psychischen Gesundheit wahrzunehmen. Diese Angebote stehen vor der Herausforderung, durch einen kompetenten Mitarbeiterstab wirksame Interventionen weithin verfügbar zu machen. Und die WHO mahnt auch eine klientenfreundliche Haltung ein: „Die Menschen benötigen ein Gefühl der Sicherheit, wenn sie psychosoziale Einrichtungen aufsuchen, und sie müssen darauf vertrauen können, dass sie dort mit Respekt behandelt und wirksam therapiert werden.“
    Wie entstanden die Prognosen, worauf bauen sie auf, wie kam es zu dieser prekären gesundheitspolitischen Situation? Schließlich ist „die Depression“ keine Krankheit, deren epidemiologischer Verlauf in gleicher Weise vorausgesehen werden kann wie die besagten Erkrankungen des Herzens und des Gefäßsystems. Die zukünftige Verbreitung derartiger Leidenszustände kann an faktischen statistischen Größen festgemacht und an die zu erwartende Bevölkerungsstruktur gebunden werden. In einer alternden Gesellschaft ist die Zunahme derartiger Erkrankungen vorauszusehen, ebenso kann man als Grundlage der Prognose annehmen, dass sich der Lebensstil nicht entscheidend verändern wird. Die Abschätzung der Bedeutung, die bestimmte Infektionskrankheiten haben werden, kann ebenfalls aufgrund faktischer Bedingungen erfolgen. Um derartige Prognosen zu erstellen, kann man auf die erwartbare Heilbarkeit, auf Lebensstilfaktoren und die Entwicklung von präventiven Möglichkeiten wie Impfungen zurückgreifen. Die Depression kann nicht mit derartigen Krankheitsprozessen verglichen werden. Sie beruht nicht auf einem Virus und sie ist nicht an den Alterungsprozess gebunden.
    Aus psychiatrischer und medizinhistorischer Sicht ist die Entwicklung verwirrend. Eine voll ausgeprägte Melancholie, als eine schwere Form der Erkrankung des Gemütslebens, galt als eher seltenes Krankheitsgeschehen. Noch 1974 sprach der Psychiater Norman Sartorius, leitender WHO-Mitarbeiter, davon, dass die Häufigkeit der Depression auf fast drei Prozent geschätzt werde und dementsprechend beinahe 100 Millionen Menschen weltweit an dieser Erkrankung litten. Allein daraus kann man erkennen, in welchem Ausmaß innerhalb von nicht einmal 50 Jahren die Diagnosehäufigkeit der Depression zugenommen hat. Dabei besteht ein großer Unterschied in verschiedenen Ländern. In den USA verdoppelte sich in den 90er Jahren die Zahl der Personen, bei denen eine sogenannte Major Depression diagnostiziert wurde. 1991 betrug der Prozentsatz 3,3, 2001 7,1. Eine ähnliche Entwicklung sah man in Frankreich, nicht aber in Deutschland. Worauf beruht das? Welche Faktoren tragen zu dieser Entwicklung bei? Sind heute tatsächlich so viel mehr Menschen psychisch krank und werden es in zehn Jahren tatsächlich noch viel mehr sein? Ist diese Zunahme lediglich als Ausdruck von Veränderungen in der Diagnostik und der therapeutischen Möglichkeiten zu sehen, ist sie ein schicksalhafter Prozess, der Einzelpersönlichkeiten und einzelne Kulturen befällt, oder ist sie als Ausdruck eines tiefergreifenden gesellschaftlichen Wandels zu verstehen?
    Dass das Verständnis von „Depression“ als Krankheit und die damit verbundene psychiatrische Diagnostik in diesem Prozess eine sehr große Rolle spielen, sei vorausgeschickt. Sartorius machte 1974 für die prognostizierte Zunahme der klinisch relevanten Depression viele Ursachen verantwortlich: die Zunahme der Lebenserwartung, die Zunahme von Stressbedingungen, die Zunahme der Verunsicherung durch Entwurzelung, Auflösung der Familie, Vereinsamung in der Masse sowie die zunehmende Häufigkeit von chronischen körperlichen Krankheiten, die von depressiven Verstimmungen begleitet sein können. Diese Interpretation war wegweisend für ein verändertes Verständnis des Wesens der „Krankheit Depression“. Die auslösenden Faktoren, die Sartorius nannte, erweitern das Spektrum der behandlungswürdigen Depression ungemein. Die klassische Melancholie, die früher als die krankhafte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher