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Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Titel: Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
Autoren: Gernot Gricksch
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mir zusammen. Bernhard war tot! Die Tränen schossen mir mit Druck und in enormen Mengen aus den Augen. Es war eigentlich absurd – ich hatte Bernhard seit fast 25 Jahren nicht mehr gesehen. Doch seine Briefe hatten ihn nie aus meinem Bewusstsein verschwinden lassen. Im Gegenteil: Jeder dieser Briefe brachte ihn mir ein Stück näher. Ich betrachtete Bernhard nach wie vor als einen von uns, als einen der Kirschkernspucker. Er war mein Freund. Und er war mein steter Mahner für mehr Mut und ein besseres Leben.
    Als ich so dasaß, schluchzend, nahm mich Susann in den Arm und strich mir tröstend über den Kopf. Sie hatte mir bereits eine kleine Tasche gepackt, da ich sicherlich in Wuppertal ein-, zweimal übernachten würde. Bernhards Mutter war vor einigen Jahren in der Klinik gestorben, auch seine Oma war schon lange tot. Es gab allem Anschein nach keine weiteren Verwandten. Und so würde ich die Formalitäten regeln. Das war ja wohl das Mindeste. Mein Zug ging am nächsten Morgen, um kurz nach acht ab Hauptbahnhof.

    Ich wartete fast eineinhalb Stunden im Wartezimmer der internistischen Abteilung, bis Bernhards behandelnder Arzt für mich Zeit hatte.
    »Herr Lehmann«, begrüßte mich der grauhaarige, durchtrainierte Mittfünfziger. »Mein Name ist Graef. Mein Beileid.«
    Ich nickte. »Woran ist er gestorben?«, fragte ich.
    »Alkoholvergiftung«, sagte Dr. Graef. »Wir hatten Herrn Pöllcken in den letzten Jahren schon mehrmals in der Notaufnahme, zweimal wurde er auch schon eingewiesen. Doch er sperrte sich gegen einen stationären Entzug. Er war ein akuter Fall, und es war leider nur eine Frage der Zeit, bis sein Körper aufgeben würde.«
    Ich schluckte. Das war unmöglich! Das musste ein Missverständnis sein! Bernhard war in der Welt unterwegs. Er war ein Samariter, ein Reisender! Er saß doch nicht saufend in Wuppertal herum! Mein Gott, war dieser Tote womöglich gar nicht der Bernhard, unser Bernhard?
    »Ich will ihn sehen«, forderte ich.
    »Darum hätte ich sie ohnehin gebeten«, sagte Dr. Graef. »Wir brauchen einen offizielle Identifizierung.«

    Ich erkannte Bernhard sofort, obgleich sein Gesicht inzwischen von überdurchschnittlich vielen Falten bedeckt war. Er war völlig ausgemergelt, wog sicherlich nicht mehr als fünfzig Kilo. Und die Tatsache, dass das Blut schon vor 24 Stunden aufgehört hatte, in seinem Körper zu zirkulieren, bewirkte eine extreme Blässe, die den scheußlichen Anblick meines Freundes nur noch verschlimmerte. Er hatte viele geplatzte Adern, im Gesicht, am Oberkörper, die jetzt blassrosa schimmerten. Seine Fingernägel waren abgeknabbert. Auf seinem Kopf ruhte ein wirrer Haufen bereits angegrautes Haar, der offenbar schon seit Jahren nicht mehr in eine vorzeigbare Frisur verwandelt worden war.
    Ich schluckte und nickte dem Pathologen zu. Der reichte mir, ohne mir in die Augen zu sehen, ein Klemmbrett mit einem Formular, das ich unterschrieb.

    Ich stand vor der Wohnungstür und probierte nacheinander jeden der Schlüssel am Bund aus. Die Krankenhausverwaltung hatte mir seine Sachen mitgegeben, darunter befanden sich auch seine Geldbörse mit seinem Personalausweis und der Schlüsselbund, mit dem ich nun zugange war. Bernhard hatte relativ zentral gewohnt, nicht allzu weit vom Bahnhof entfernt. Es war ein Hochhaus, sieben Stockwerke. Einer jener streng funktionalen, grauen, schlichten Klötze, die so ziemlich jede deutsche Stadt verunzierten. Bernhard hatte im dritten Stock gewohnt. Die Innenwände des Fahrstuhls waren mit Edding-Kritzeleien bedeckt.
    Es war der vierte Schlüssel, der passte. Als ich die Wohnungstür öffnete, schlug mir ein muffiger Geruch entgegen. Hier war schon lang nicht mehr gelüftet worden. Ich zog die Gardinen im Wohnzimmer zurück und öffnete die Tür, die zu dem kleinen Balkon führte. Dort standen ein paar leere Bierkisten. Auch im Rest der Zweizimmerwohnung fanden sich überall Beweise für Bernhards Sucht: Dosen und Flaschen. Bier, Wein, Schnaps. In Bernhards Schlafzimmer stand ein schlichtes Holzbett, dessen Wäsche völlig verdreckt war. Auf dem Nachttisch stand eine Halbliterflasche Wodka, lagen mehrere Bücher und zwei GEO-Hefte. Es waren die beiden aktuellsten Ausgaben.

    »Aber die Poststempel waren doch echt«, wunderte sich Dilbert. Er hatte seinen Arm um Petra gelegt. Der Schock von Bernhards Tod hatte ihren letzten Ehekrach vorzeitig beendet. Momentan herrschte bei den beiden wieder die kuschelintensive Versöhnungsphase. Wir
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