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Die Delegation

Die Delegation

Titel: Die Delegation
Autoren: Rainer Erler
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existieren sogar Fotos von diesen Wesen. Es waren mindestens vier. Eine Delegation!«

 
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    Wer läßt sich schon gern für dumm verkaufen? Der Grund, warum ich mich trotzdem mit diesem Wingard verabredete, war weniger seine blödsinnige Geschichte, als vielmehr der Umstand, daß er wirklich an diese Geschichte zu glauben schien.
    Als hätte ich in meinem Job nicht schon mit genügend, allerdings sehr liebenswürdigen Verrückten zu tun! Ich habe ihn also nach Geiselgasteig bestellt zu den Bavaria-Ateliers. In die Kantine von ›Europas schönster Filmstadt vor den Toren Münchens‹.
    Es war bereits drei und der Mittagsrummel vorüber. Ein penetranter Fischgeruch schwebte noch im Raum und erinnerte mich daran, daß es gemäß einer bayerisch-katholischen Vereinbarung Freitag sein mußte.
    Gleich neben der Tür saßen zwei Dutzend Kleindar steller, Statisten also, Komparsen, wie wir sagen. Man hatte ihnen lange graue Bärte ins Gesicht geklebt. Sie warteten nun im Frack und Gehrock auf ihren Auftritt in einem der Studios. Ein aufmerksames ›Mahlzeit-Mahlzeit‹ kam mir entgegen. Einer sprang auf, begrüßte mich mit Handschlag. Ich kenne die meisten persönlich, aber die Maske dieses Mannes war zu perfekt. Schon aus diesem Grunde war es sinnlos, daß er mir vertraulich zuraunte, er habe nächste Woche nichts zu tun. »Scha de, ich auch nicht! Ich drehe erst wieder im April!«
    »Ach, erst im April …!«
    Sie blickten mir nach, ein Raunen am Tisch: »Erst im April – im April …!«
    Es war nicht sehr viel los zur Zeit. Es war seit Jahren nicht mehr sehr viel los für diese Leute. Keiner von denen hatte regelmäßig zu tun. Die achtzig Mark am Tag waren zwar nicht schwer verdient, aber wieviel Achtzig-Mark-Tage gab es denn noch im Jahr, seit die großen Spielfilmproduktionen eingestellt waren, seit jede Fernsehproduktion um jede Etat-Mark mit dem Sender feilschen mußte. Massenszenen waren da nicht mehr drin. Knapp fünfhundert ›Kleindarsteller‹ sind hier in München amtlich registriert. Viele von ihnen versammeln sich regelmäßig in einem Gasthaussaal zur ›Filmbörse‹. Da geht man dann durch die Reihen, muß Hände drücken, dem und jenem zuwinken, die meisten kenne ich seit zwanzig Jahren – und dann hat man von den vielen hundert Gesichtern nur zweiunddreißig oder sechsundvierzig für die nächste Produktion auszuwählen – für jeweils einen Tag …! Ehrlich gesagt, mir ging das immer sehr an die Nieren. Da gab es Operettensänger, denen die Münchner früher zugejubelt haben, Tänzerinnen mit Gicht in den Gelenken, ja, natürlich auch junge Modelle, Mannequins, Dressmen, viel Eitelkeit, auch Bequemlichkeit, denn besonders anstrengend war dieser Job ja nicht – und sehr viel Hoffnung, daß eines Tages die große Chance kommt, der Durchbruch, das Bild in der Zeitung, eine Hauptrolle, die glanzvolle Karriere. Ein Traum – fernab von jeglicher Realität. Also – bis zum April …
    Ganz hinten in der Ecke, wo die Belegschaft sich selbst bedient, stimmte der ›Mailänder-Karl‹, ein Oberbeleuchter, mit bierseliger Stimme ein bayerisches Lied an. Die kehligen Laute gingen im Gelächter seiner Kollegen rasch wieder unter. Die hatten schon Feierabend; es war ja Freitag. Und auch in den Studios war nicht mehr viel los. An Original-Schauplätzen zu drehen, in echten Wohnungen, Büros, Restaurants, war nicht nur wesentlich billiger, das Ergebnis war auch überzeugender und authentischer. Es war deshalb keine Modetorheit, es war ein Sprung in die Realität, wenn wir, wo immer sich das einrichten ließ, die Arbeit in den Ateliers, in den teuren, künstlichen Dekorationen vermieden.
    Jetzt standen einige der großen Hallen von Europas schönster Filmstadt bisweilen leer. Vielleicht sang deshalb der ›Mailänder-Karl‹ seine traurigen Lieder, Lieder vergangener Tage, als ›Traumfabrik‹ noch ein Zauberwort war, als berühmte deutsche Kameraleute alten Schlages eine einzige Szene stunden-, am liebsten tagelang ›ausgeleuchtet‹ hätten. Denn das Belichten von Zelluloid war damals Magie, und der ›Mailänder-Karl‹ war fast so etwas wie ein Zauberlehrling, der nicht so recht begreifen kann, daß es heute ohne Hokuspokus gehen muß. Im Herbst wird er pensioniert.
    Ansage über die Lautsprecher. Die Aufgerufenen, ein Schwarm bunter Schmetterlinge, wirbelten hoch: Ballett, grell geschminkt, in poppigen Kostümen.
    An einem der Fenstertische machten zwei Redakteure einen Nachwuchsautor fertig. Ihn wird
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