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Die da kommen

Die da kommen

Titel: Die da kommen
Autoren: Liz Jensen
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tief Luft. »Die Geister wollen nicht immer unser Bestes«, begann Sunny Chen. »Wenn wir ihnen nicht genügend Respekt bezeugen, müssen sie …« Hier fehlte ihm das richtige Wort, und er legte die Stäbchen beiseite, um in seiner Handy-App zu suchen. »… besänftigt werden.« Ich wartete auf eine Fortsetzung. Er griff nach dem Salzstreuer und ließ einen Schneesturm grober Kristalle in seine Schüssel regnen. »Deshalb besuchen wir ihre Gräber und verbrennen Höllengeld. Wir kaufen uns los. Ganz anders als im Westen.«
    Ich sagte: »Der Glaube ist globaler, als die meisten Menschen denken. Jede Gesellschaft hat ihre eigenen Methoden, um die Geister zu besänftigen. Oder wie immer man sie nennen möchte. Bei den Katholiken konnte man Ablässe kaufen, um sein Seelenheil zu retten.«
    »Wird man bestraft, wenn man etwas Falsches tut? Wenn man … Moment, ich muss das Wort suchen.« Er tippte ein weiteres chinesisches Schriftzeichen ein und hielt mir das Display hin.
    Eine Sünde begehen/sündigen.
    »Ja. Aber Katholiken können beichten und Buße tun. Mr Chen, hat jemand bei Jenwai eine Sünde begangen ?«
    Er antwortete ausweichend. »Man erfreut den einen und verärgert den anderen. Es ist, als würde man in kleine Stücke zerrissen, verstehen Sie?«
    Ich verstand es nicht, doch Professor Whybray hatte mir immer geraten: Im Zweifelsfall besser gar nichts sagen. Also aßen wir eine Weile schweigend weiter. Sunny Chen fügte jedem Bissen, den er aß, Salz hinzu. Zwischendurch trank er grünen Tee.
    »Ich glaube, wir machen bei Geistern einen großen Fehler«,sagte er plötzlich. »Wir denken, sie stammen aus der Vergangenheit. Wir denken, sie wären alle tot. Aber sie sind am Leben. Und manche von ihnen wurden noch nicht einmal geboren. Sie sind Reisende.«
    »Reisende?«
    »Ja, sie bewegen sich.« Seine Stimme klang seltsam erstickt. »Sie gehen, wohin sie wollen. Sie dringen in unseren Körper ein und bringen einen dazu, Dinge zu tun.«
    Ich bin nicht stolz auf meine Reaktion, die darin bestand, mich abzuwenden, sobald ich seine aufsteigenden Tränen bemerkte.
    Draußen zerriss ein grellweißer Linienblitz den tiefgrauen Himmel, gefolgt vom Beckenscheppern des Donners. Ein Touristenbus auf dem Weg zum Nationalmuseum fuhr vorbei: Ich erkannte die Ideogramme im Anzeigefenster. Chens unverhohlener Gefühlsausbruch war verzweifelt und für mich unangenehm. Eine Verhaltenspsychologin wie Stephanie Mulligan hätte gewusst, was zu tun oder zu sagen wäre. Ich nicht. Also griff ich in meine Aktentasche und holte die limonengrüne Gottesanbeterin heraus, die ich auf Arran schon vorgefaltet und mit der ich auf dem Flughafen von Manchester begonnen hatte. Während sich Sunny Chen wieder fasste und die Rechnung bezahlte, vollendete ich die letzten achtundzwanzig Faltungen und überreichte ihm das Papierinsekt mit beiden Händen und einer kleinen Verneigung.
    »Ein Geschenk.«
    Es schien ihn aufzumuntern. »Ich möchte Sie mitnehmen«, sagte er. »Ich will Ihnen zeigen, was ich mit den Geistern meine.«
    Draußen rief er wieder ein Taxi und sprach kurz mit dem Fahrer, dann fuhren wir durch den dichten Verkehr von Taipeh. Der Regen hörte auf, und der Himmel wurde klar. Chen schien in Gedanken versunken. Er sagte nicht, wohin wirfuhren. Wir ließen die Hotels und Kaufhäuser der Innenstadt hinter uns und gelangten in die Vororte und dann in ein Niemandsland mit Fabriken, Silos, Lagerhäusern und Reparaturwerkstätten. Nach dreiundzwanzig Minuten und fünfzehn Sekunden bogen wir schließlich an einer Gabelung nach rechts ab und fuhren in die Berge, die die Stadt umgaben, nach Westen in Richtung des Yang-Ming-Shan-Distrikts. Sechseinhalb Minuten später erkundigte sich der Taxifahrer bei Sunny Chen nach der genauen Lage unseres Ziels und erhielt eine zerstreute Antwort, bei der Sunny Chen mit dem Finger die Richtung andeutete. Das Gewitter hatte sich vollständig verzogen und war grellem Sonnenschein gewichen. Die Straße wurde von Felsbrocken, fedrigen Bäumen und kleinen Müllhaufen gesäumt, die Rauchkringel ausdünsteten. Schließlich bog das Taxi nach links in eine schmale Seitenstraße, die von hohem Bambus flankiert war. Nach drei Minuten und fünf Sekunden wurden wir langsamer und rollten durch ein Tor auf einen betonierten Parkplatz, auf dem das Unkraut durch die Risse drängte. Das Regenwasser verdunstete in der Sonne, man konnte die aufsteigenden Dämpfe sehen. Der Fahrer parkte unter einem Baum mit grob geriffelten,
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