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Die da kommen

Die da kommen

Titel: Die da kommen
Autoren: Liz Jensen
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Himmel, der abwechselnd verschwenderisch beleuchtet und dann wieder dunkel wurde, während der Regenguss alles in neonhelle Dreistigkeit tauchte. Das Grün des Laubs schien zu vibrieren.
    Während wir auf unser Essen warteten, veränderte sich Sunny Chens Stimmung. Seine Augen suchten das Restaurant ab, als erwartete er jemanden. Einmal griff er nach dem Salzstreuer, nahm eine Prise und streute die Kristalle auf seine Zungenspitze. Das kam mir merkwürdig vor, und ich schrieb es einer gewissen Nervosität zu. Um die Verbindung wiederherzustellen, stellte ich ihm Fragen auf Mandarin, die er geduldig und in einfachen Sätzen beantwortete, die ich verstehen konnte. Ich erfuhr, dass seine Frau Lehrerin warund zwei seiner Töchter noch zur Schule gingen, während die dritte bereits studierte. Als er sich nach meiner häuslichen Situation erkundigte, berichtete ich, dass ich mich kürzlich von Kaitlin getrennt hatte (die ich der Einfachheit halber als »meine Frau« bezeichnete) und nun allein lebte. Ich erzählte von Freddy. Dass ich fremdsprachige Wörterbücher und Farbkataloge sammle (dafür brauchte ich die Übersetzungs-App meines Smartphones) und Origami mache. Bei meinen letzten Worten schossen seine Augenbrauen in die Höhe. Es ist wohl schwer zu glauben, dass ein großer Mensch etwas so Zartes tun kann.
    Kleine Schüsseln mit würzigen Szechuan-Gerichten wurden aufgetragen: Tintenfisch in einer Soße aus schwarzen Bohnen, Hähnchen mit Chili, Wantan-Suppe, Jasminreis, grüner Tee. Er erklärte mir das Essen in beiden Sprachen, und ich merkte mir die neuen Vokabeln. Dann füllten wir unsere Schüsselchen mit Sojasoße und begannen zu essen. Eine Zeit lang vertieften wir uns ins Essen. Es war vorzüglich.
    »Würden Sie sagen, dass es sich bei dem Zeichen, das Sie mir gezeigt haben, um einen Handabdruck handelt?«, erkundigte ich mich nach vier Minuten.
    »Ja«, sagte er und legte die Stäbchen beiseite. »Es erschien nach dem Geistertag. Kennen Sie den Geistertag?«
    »Ja. Er fällt auf den fünfzehnten Tag des siebten Monats im Mondkalender.«
    Er kniff die Augen zusammen. Ich hatte seine Neugier geweckt.
    »Ich habe ein gutes Gedächtnis für alles, was ich geschrieben vor mir sehe«, erklärte ich. »Vor allem Fakten, die mit Zahlen zu tun haben.«
    Meine Doktorarbeit über die Anthropologie von Glaubenssystemen erwähnte ich nicht – für Sunny Chen war ich einfach nur ein von der Firma beauftragter Problemlöser.
    »Dann wissen Sie sicher, dass wir an diesem Tag die Hungergeister ehren, in dem Monat, in dem die Tore der Hölle geöffnet sind.« Ich nickte. Als Hungergeister bezeichnete man auch die Opfer der Hungersnot, die durch Maos »Großen Sprung nach vorn« ausgelöst wurde. »Die Geister wandern über die Erde. Sie sind ruhelos und brauchen Hilfe. Die wiederum erwarten sie von uns. Also tun wir, was sie wollen.«
    Während er sprach, füllte er Sojasoße in seine Schüssel nach. Die Flüssigkeit schoss in kleinen, dunklen Spritzern aus der Flasche. Die Bewegung war ebenso hypnotisch wie die der kreisenden Laternen über uns. Dann hob er die kleine Schale an und kippte den Inhalt über seinen Reis. Das erschien mir sehr untypisch für einen Chinesen, es war eine eher westliche Geste. Sojasoße ist sehr salzig, und ich machte mir Sorgen um seinen Blutdruck.
    »Es können Familienmitglieder sein, das ist aber nicht zwingend. Sie müssen einem etwas sagen, oder man muss etwas für sie tun. Dann erscheinen sie einem im Schlaf. Das nennt sich tong-mong. Kennen Sie das?«
    Ich nickte. »Durch Träume.«
    In der chinesischen Tradition gibt es keinen Himmel, nur verschiedene Ebenen der Hölle. Die Geister, die im Geistermonat erscheinen, stammen aus den tiefsten Ebenen der Unterwelt. Sunny Chen schaute mich eindringlich an, als hätte er etwas Bedeutendes gesagt, das mich zu einer ganz bestimmten Schlussfolgerung führen sollte. Doch das tat es nicht. Ich verstehe mich nicht auf Spielchen, bei denen man ständig raten muss. Deshalb legte ich meine Stäbchen weg und stellte den kleinen Digitalrekorder zwischen uns auf den Tisch. Der Ermittler aus dem Betrugsdezernat hatte recht: Wenn ich Sunny Chens Theorie richtig deutete, dann passte sie tatsächlich zu der Beschreibung komischer Kauz . Doch der Anthropologe in mir war geweckt, und ich weiß, dass sichMenschen, die etwas Wichtiges zu sagen haben, oft kreisförmig zum Ziel vorarbeiten. Ich drückte die Aufnahmetaste.
    »Sprechen Sie bitte weiter.«
    Er holte
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