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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin
Autoren: Julia Kröhn
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einem vergeudeten Leben blieb, was sollte sie dagegen einwenden?
    Sie wollte sich wieder im Spalt verstecken, als sie plötzlich Cathérines Blick auf sich spürte. Ihr Schlupfwinkel war zwar dunkel – aber ihre Gestalt hatte Schatten geworfen.
    Eben noch hatte die Tochter zur eifrigsten Ruferin gehört, jetzt blickte sie verschreckt und zugleich enttäuscht auf die Mutter, des Wahns beraubt, den sie eben noch mit Freuden angefacht hatte, zutiefst verletzt auch, weil der schöne Glaube plötzlich das verhasste Gesicht der Mutter trug.
    Sophia hielt ihrem Blick stand. Selten hatte sie der Tochter so lange ins Antlitz geschaut.
    Dann schüttelte sie sachte den Kopf, hob den Zeigefinger und führte ihn zu ihren Lippen.
    »Psst«, machte sie verhalten, ehe sie noch tiefer in ihr Versteck zurücktrat, auf dass keine zweite sie entdecken würde.
    Verwirrung senkte sich über Cathérines Züge.
    »Psst!«, machte Sophia ein zweites Mal.
    Oh, wenn die Tochter nur endlich verstehen würde, dass sie sich mit Absicht verbarg, dass sie den Schwestern den Glauben an das Rosenwunder lassen wollte, dass sie es gewiss nicht war, die Isambour vermeintlichen Ruhm rauben würde!
    Jetzt endlich reagierte Cathérine und stellte sich so vor den Spalt, dass er verborgen war und niemand anderer die Mutter sehen konnte.
    Ehe sie sich von ihr abgewendet hatte, hatte Sophia jedoch den letzten Ausdruck ihres Gesichtes gesehen. Er hatte Fassungslosigkeit gespiegelt – und erstmals seit vielen Jahren sah Cathérines Gesicht nicht mürrisch und zänkisch aus, sondern verletzlich und nackt.
    Am Tag nachdem Isambours sterbliche Überreste Corbeil verlassen hatten, verbrannte Sophia ihre Chronik.
    Da in keinem Kamin zur Sommerzeit Feuer brannte, behalf sie sich mit einem kleinen Kessel aus der Küche, in den sie die gerollten Blätter steckte. Sie hielt eine Kerze daran, und schon züngelten die Flammen und gingen keuchend und prasselnd ans Werk.
    Der Rauch stand dicht, als Sœur Roesia den Raum betrat und das schier Unglaubliche mit ansehen musste.
    »Du lieber Himmel!«, stieß sie erschrocken und fassungslos aus, wiewohl ihre Stimme sonst kühl, verhalten und beherrscht klang. »Was tut Ihr denn hier?«
    Sophia drehte sich nicht um. In ihrem alternden Gesicht spiegelte sich das Feuer.
    »Ich trenne das Unwichtige vom Wichtigen«, sagte sie schlicht.
Anno Domini 1245
Damenstift zu Corbeil
    »Komm«, sagte Yolanthe sanft zu Roesia, »komm mit mir... lass uns gehen. Es ist hier nicht der richtige Ort, um zu reden...«
    Die einlullende Stimme kam von weit her. Roesia wusste, dass Yolanthe mit ihr sprach – aber als sie aufblickte, vermeinte sie, in Sophias Gesicht zu sehen. An jenem ersten Tag, da sie sie kennen gelernt hatte, war es ihr hart erschienen, vom Leben geschunden, geformt von einem langen, erbitterten Kampf um die Gelehrsamkeit. Sophia war schöner gewesen als sie selbst – die Augen sehr groß und wach, die Lippen fein geschwungen und die Zähne weiß und vollständig vorhanden. Dennoch hatte sie in der ersten Zeit gehofft, sich gewünscht, sich sicher darin gewähnt, dass Sophia ihr Spiegelbild war.
    Sie wusste, dass das harte Leben nur enttäuschte; sie wusste, dass man alles Fühlen abschütteln musste; sie wusste, dass nur in der nüchternen, kalten Welt der Wissenschaft Heil zu suchen war.
    Ja, das war von Sophia zu lernen.
    Doch dann, nach Königin Isambours Tod, war sie ihr fremd geworden. Schon als Sophia auf die brennende Chronik blickte, waren die Züge höchstens ein wenig amüsiert. Selbst als Roesia versuchte, die Chronik zu retten, Sophia sie aber hart weggestoßen hatte, lag nichts von der üblichen angespannten, verbissenen Entschlossenheit darin.
    »Es ist mein Werk, und ich darf es verbrennen.«
    »Aber warum, warum?«
    »Es ist für mich unwichtig geworden, was darin steht. Was scheren mich die Kriege des französischen Königs? Was schert mich das Interdikt, das er mit seiner Sturheit über das Land brachte? Was schert mich der deutsche Thronstreit, die Schlacht von Bouvines, vor allem schließlich, was schert es mich, welche Gerüchte man sich von Isambour erzählte, kaum war sie wieder in Paris? Solcherlei Chroniken werden viele kluge Männer schreiben. Ich jedoch nicht.«
    »Nein!«, schrie Roesia.
    Sie schrie auch jetzt – vielleicht schrie sie zum ersten Mal. Vielleicht hatte sie sich Sophia damals nicht entschlossen genug entgegengeworfen.
    Nun schrie sie nicht nur, nein, sie brüllte Yolanthe an. An ihren
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