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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin
Autoren: Julia Kröhn
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aufgeschrieben habt!«, hielt Roesia dagegen – vom milden, nachsichtigen Lächeln der anderen noch aufgewühlter gestimmt.
    Ernst und auch ein wenig ungeduldig fuhr Sophia fort.
    »Wer aber kann sagen, was wichtig ist und was nicht?«, fragte sie. »Das, was der König von Frankreich in seinem Leben tat? Vielleicht! Doch die meisten seiner Gedanken stammten von Frère Guérin, und jener scheint in keiner Chronik auf. Und Königin Isambour – findet sie denn anders Erwähnung, als nur wegen eines vermeintlich demütigen und heiligen Lebens? Eine Lüge ist’s, das zu schreiben, die Wahrheit vielmehr, dass sie eine Frau ohne sichtbaren Geist war, jedoch mit ungeheurer Kraft, mit der sie sich in der Hochzeitsnacht gegen den König wehrte. Warum soll eine Geschichte wie diese weniger Wert haben als der Waffenstillstand von Frèteval oder das mahnende Auftreten von Petrus von Capua?«
    »Das ist noch nicht das Schlimmste, was Ihr geschrieben habt, aber...«
    Roesia brach ab, weil sie mit Worten nichts ausrichten konnte. Stattdessen blätterte sie erneut in der Chronik und las Sophia manche Sätze daraus vor.
    Die beiden Novizinnen schlachteten Schweine, fett geworden von der Eichelmast im Oktober; das Blut des schrill quietschenden Tieres tropfte auf den matschigen Schnee, und hernach sanken die beiden Novizinnen auf den dreckigen, grau-roten Boden, um einander zu umarmen.
    Frère Guérin hob den Kopf, aber nicht, um sich von ihr zu lösen. Stattdessen drückte er ihren Leib zurück, bis sie auf der harten Tischplatte zu liegen kam. Seine wohlgeformten, feinen Hände begannen tapsig an ihrem dunklen Kleid zu nesteln.
    Théodore starrte auf das Schmuckstück und deuchte sie noch fahler im Gesicht werden. Heftig trat sie vor, um ihn nicht nur zu berühren, sondern zu umarmen. Vielleicht konnte sie seine lähmende Wehmut aus ihm herauspressen. Vielleicht das eigene Unbehagen über die Lüge abwürgen.
    Christian zog sie zu sich, nicht männlich roh, sondern irgendwie weich – unschuldig auch, weil ihn kein Verlangen trieb, sondern eine an ihm befremdliche Güte. So einlullend war diese, dass Sophia das Urteil vergaß, wonach er ein Nichtsnutz und Faulpelz war, sich gegenüber der Gelehrsamkeit verschloss und stattdessen sein Leben mit sinnlosen Vergnügungen voll stopfte.
    »Nun gut!«, bekräftigte Sophia, was sie geschrieben hatte. »Was stört dich daran? Es ist mein Leben, mein Streben!«
    Mit einem lauten Aufstampfen trat Roesia von ihr fort, die Nähe fliehend, die sie in den letzten Jahren gesucht hatte.
    »Es zählt doch nicht, was den Einzelnen treibt, womit er hadert, was ihn kränkt!«, rief sie mit kieksender Stimme. »Es zählt doch einzig Gottes großer Heilsplan, mit dem er die Geschichte lenkt.«
    »Ha!«, lachte Sophia und scheute sich nicht, es an Lautstärke mit der anderen aufzunehmen. »Dieser Heilsplan wird von Menschen erfüllt – einzelnen Menschen mit ihrer jeweiligen Geschichte. Théodore wurde dafür verurteilt, dass er eben diese einzelnen Menschen in den Mittelpunkt seiner Philosophie rückte und deren Würde als unabdingbar bezeichnete. Selbst die Frau, so folgerte er, habe das Recht auf Bildung. Mit dem, was ich aufschrieb, bin ich nicht zuletzt dieser Ansicht gefolgt und...«
    »Aber eben deswegen müsst Ihr beweisen«, unterbrach Roesia sie schrill, »dass Euer Verstand so unbestechlich ist wie der der Männer. Dass Ihr nichts anderes für wert befindet, festgehalten zu werden, als diese! Stattdessen schreibt Ihr über Schmerz und Kummer und Liebe, wovon auch die Bauernmädchen auf dem Felde und die Mägde in der Küche plappern und tratschen. Es hat dies keine Bedeutung und keinen Bestand!«
    Die Wut erschöpfte sich nicht in den Worten. Sie verlangte noch mehr als diese. Als Roesia Sophias Blick auswich, die Augen verdrehte, um nichts mehr von ihr und ihren scheußlichen Schriften zu sehen, verlor sie sich nicht im dankbaren Dunkel, sondern sah sich selbst zu, wie sie da mit einer alten Frau plärrte und schrie und keifte, wiewohl oder gerade weil sie vor keiner anderen jemals so viel Respekt gefühlt hatte. Die Scham über die eigene Unbeherrschtheit trieb ihr Tränen in die Augen. Sie perlten über die Wangen, erreichten den Mund, schmeckten fremd. Sie wusste nicht, wann sie das letzte Mal geweint hatte. Bei keinem Kindstod war solches geschehen – nicht ertragen können hätte sie es.
    Nun ertrug sie es auch nicht, aber ward von dem Schluchzen geschüttelt wie von
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