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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin
Autoren: Julia Kröhn
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Lebenskräfte. Nachdem sie vor zwei Jahren begonnen hatte, Blut zu husten, wurden ihre Glieder nun zunehmend unbeweglich, und ihr Körper wurde von stetigem Frösteln geschüttelt. Sie verweigerte meist das Essen und wurde blass und eingefallen.
    Doch wiewohl man den Tod nun schon täglich erwartete und sein Geruch in der Zelle zu hängen schien, ließ er sich Zeit. Er kam weder im Winter des Jahres 1237 noch im Frühling. Gret pflückte Rosen von der stacheligen Hecke und breitete sie auf der Decke der Siechen aus. Wohingegen Isambour früher im Garten danach geschnuppert hatte, blieb sie jetzt starr liegen.
    »Ich begreife nicht«, sagte Gret in den wenigen Augenblicken, da sie mit Sophia alleine in der Zelle war, »warum sie, die doch niemals festen Schrittes auf dieser Erde gewandelt ist, sich nicht viel rascher und leichter davon löst, warum ihre Seele nicht einfach davonflattert.«
    Sophia zuckte ratlos die Schultern. Oft hatte man sie in den letzten Monaten gebeten, ihre Heilkünste zu nutzen, um der Königinwitwe zu helfen und ihr Leben zu verlängern. Stets hatte sie es abgelehnt, erklärt, dass sie zwar bereit sei, Isambour Schmerzen zu nehmen für den Fall, dass diese auftreten sollten, sie jedoch nicht auf Erden festhalten wollte. Nun blieb Isambour ohne ihr Zutun auf dieser Welt.
    »Weißt du, was ich mir manchmal wünsche?«, fuhr Gret fort. »Dass sie noch einmal einen Laut von sich gibt. Bis auf leises Wimmern hat sie es nie wieder getan, seitdem du sie verraten und von dir gestoßen hast.«
    Sophia wich ihrem Blick aus. Isambours Hand, nach der sie gegriffen hatte, war eiskalt und bläulich verfärbt.
    »Ich dachte, du hättest mir verziehen.«
    »Sag, bereust du es?«
    »Es war nicht ich, die über ihr Geschick bestimmt hat – es war der König.«
    »Und du hast dich auf seine Seite gestellt. Bereust du es?«
    Gret sprach schnell wie einst. Nie hatte sie den hölzernen dänischen Akzent ablegen können. Sophias Worte indessen kamen gedehnt und wohl bedacht.
    »Nein, ich bereue es nicht«, erwiderte sie, »bis heute denke ich, dass ich nichts anderes hätte tun können. Das Einzige, was ich jemals in meinem Leben wirklich bereut habe, war, Frère Guérin vertraut zu haben, geglaubt zu haben, er sei der Mann, der einer Frau wie mir gebührt. Doch auch das ist jetzt vorbei – und heute ist mein einziger Wunsch, dass Cathérine nicht vom gleichen Hass verzehrt wird wie einstmals ich.«
    Gret antwortete nicht, bekundete nur, sie wolle frische Blumen für Isambour pflücken.
    »Es ist doch schon Juli!«, rief Sophia ihr nach, ohne sie freilich aufhalten zu können. »Die Rosen sind längst verblüht.«
    Isambours Hand schien noch kälter und blutleerer geworden zu sein. Wiewohl die Schwüle seit den Morgenstunden im Zimmer hing, schien sich in ihrem ganzen Leib Frost auszubreiten. Das sommerliche Licht drang weder in die blinden Augen noch in die steifen Glieder.
    Gedankenverloren strich Sophia darüber. Von Schwester Cordelis hatte sie einst gelernt, was als einziges Mittel bliebe, um einen Leib aufzuwärmen, wenn Decken und Feuer ihren Dienst versagten. Sie ließ Isambours Hand los, rutschte den schmalen Körper ein wenig zur Seite und legte sich auf den verbleibenden Platz auf dem Krankenlager.
    Früher hatte sie sich stets davor geekelt, Kranke zu fühlen. Jetzt lag sie gänzlich an einen sterbenden Leib gepresst, aber das Einzige, was sie überkam, war Erstaunen, dass Isambour, die doch so viel kleiner und so viel schwächer, ja so viel geistloser war, immer noch lebte.
    Sie musste eingenickt sein, denn plötzlich – und dies konnte sich nur in ihren Träumen so verhalten – hörte sie eine Stimme, raunend und flüsternd.
    Sophia blickte zu Isambour, und jene – beinahe vierzig Jahre lang verstummt – flüsterte ein ums andere Mal, den einzigen Namen, den sie jemals zu artikulieren versucht hatte: »Ragnhild... Ragnhild.«
    »Ich heiße nicht Ragnhild. Ich heiße Sophia«, antwortete sie und wähnte sich immer noch im Schlaf gefangen.
    Weißer Schaum glänzte wie einst an Isambours eingefallenen Mundwinkeln.
    »Sophia«, sagte sie mit verlöschender Stimme. »Sophia...«
    Isambour starb noch am gleichen Tag.
    Ihre blinden Augen wurden geschlossen, ihr eingefallener Leib in der Krypta aufgebahrt, und die Schwestern standen betend um die Tote. Sie machte ihnen die Ehrfurcht leichter als zu ihren Lebzeiten. Manch eine, die – von Gerüchten angestachelt – gehofft hatte, in Isambours Gegenwart
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