Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin
Autoren: Julia Kröhn
Vom Netzwerk:
gleiches Gesetz – doch das Zuwiderhandeln wurde kaum geahndet. Keine Äbtissin, und schon gar nicht die jetzige mit leiser Stimme und geistlosem Ziegengesicht, wagte die Töchter und Witwen von Grafen und Herzögen zu rügen oder gar zu bestrafen.
    Die andere trat näher, zielstrebig und forsch, sprach schließlich ohne Gruß, die Zähne zeigend, welche ein wenig schief standen und mit großen Lücken. Ihre Stimme war fest.
    »Ich weiß, Ihr kennt mich nicht«, begann sie, »tatsächlich ist es so, dass ich erst seit kurzem an dieser Stätte mein Leben zubringe. Freilich reichte die Zeit, um zu erfahren, dass Ihr ein außergewöhnliches Weib seid...«
    Redend bewegte sie die Hände, nicht weich, sondern abgehackt, wie ihre ganze Sprache war.
    »Und was wollt Ihr von mir?«, fragte Sophia, der Menschen zu sehr entwöhnt, als dass sie Lust an diesem wortreichen Besuch empfunden hätte.
    »Man sagt, Ihr seid gebildet, hättet viele Bücher und Schriften gelesen und könntet daraus zitieren – frei aus dem Gedächtnis.«
    »Alles, was ich jemals gelesen habe, ist und bleibt in meinem Kopf«, erklärte Sophia, nicht ohne Stolz und zugleich mit Spott – rechnete sie doch damit, dass ihre besondere Gabe wie einst erschrecken würde.
    »Deswegen bin ich hier«, sagte die Schwester, die nicht mehr jung war und vom Leben unberührt, aber auch noch nicht vom Alter gebeugt. »Ich begehre zu wissen. Ich begehre zu lernen.«
    Sophia musste unwillkürlich lächeln. Dass die andere einen so festen Willen bekundete, nicht zögerte, nicht zauderte, gefiel ihr.
    »Ihr scheint nicht recht verstanden zu haben«, erklärte sie dennoch herablassend, »dass sich ein jeder Buchstabe in mein Gedächtnis fräst, erschien den Menschen immerzu als Teufelsgabe, vor der man sich ängstigen muss.«
    Der Blick der anderen blieb unbewegt. »Das Stift hat keine Bibliothek«, sprach sie, »umso mehr mag’s einen Menschen wie Euch brauchen, auf dass ich den stumpfen Tagen entgehen kann. Wisst Ihr nicht, wer ich bin?«
    »Ich kenne viele Bücher, Namen nur wenige.«
    Sophia war aufgestanden und auf die andere zugetreten. Nun, da sie ihre Züge aus der Nähe musterte, spürte sie noch deutlicher den Trotz, den festen Willen, die Unbestechlichkeit, mit der die andere der Welt entgegentrat. Die Augen freilich passten nicht in dieses Gesicht. Ihr Blick war leer – und in seinen Tiefen traurig.
    »So soll auch meiner nur dieses eine Mal Erwähnung finden«, sagte die unbekannte Schwester. »Man heißt mich hier Normannische Prinzessin, denn ich komme aus dem Norden. Drei Mal hat man mich verheiratet – einmal für ein Bündnis gegen Frankreich, einmal für ein Bündnis mit Frankreich, schließlich einfach nur, weil mein Wittum reizte. Sechs Kinder habe ich geboren und begraben. Jetzt endlich bin ich zu alt geworden, um länger dem Schachern der Männer zu genügen, zugleich aber zu jung, um mein Leben mit dem Warten zuzubringen, Äbtissin zu werden... Ja, gewiss, das werde ich sein, so ist es ausgemacht. Ich heiße Roesia, und ich will nichts mehr mit meinem Leben und meiner Vergangenheit zu tun haben. Mein Verstand soll geschärft sein, auf dass ich das Unwichtige vom Wichtigen zu scheiden lerne und es nicht mehr weh tut, wenn ich auf mein Leben zurückblicke.«
Anno Domini 1245
Damenstift zu Corbeil
    Roesia starrte Yolanthe an.
    Erst jetzt gewahrte sie, wie stickig und schwer die Luft in der geheimen Kammer neben der Krypta stand. Sie war nicht aufgewärmt wie in den Räumen unter dem Dach, die die Gluthitze des Sommers auch noch des Nachts bewahrten, sondern kühl wie im Vorratskeller. Jedoch roch sie nicht nach geräuchertem Schinken, eingelegtem Gemüse oder herbstlichem Obst, sondern nach Staub – und Tod.
    »Du... du weißt, wo die Chronik ist?«, fragte sie schließlich schwach, um solcherart von dem abzulenken, was Yolanthe ihr noch verraten hatte: Dass ihr der Mörder von Sophia bekannt war, der Mörder von Cathérine, von Gret, von Eloïse.
    Yolanthe betrachtete sie immer noch mit jenem warmen, milden Gesichtsausdruck, der jenem glich, wenn sie sich an der Pforte Bedürftigen zuwandte.
    »Sag mir wol Sag’s mir!«
    »Ach Roesia«, seufzte Yolanthe und verzichtete auf jede Ehrbezeichnung. Der anderen fiel es nicht auf. »Sag lieber du es mir! Weißt du es nicht besser? Kannst du dich wirklich nicht erinnern?«
    Roesia schüttelte den Kopf, um zu bekunden, wie leer dieser war und wie ziellos ihre Gedanken. Die Wahrheit jedoch war, dass sich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher