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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin
Autoren: Julia Kröhn
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Gebt es an mich weiter, und ich werde später die jüngeren Schwestern lehren, die in das Stift eintreten werden! Vertraut es mir an, und Ihr werdet nicht umsonst gelebt haben! Vergänglich jedoch ist, was Ihr jemals erlitten habt – und auch das, was mir in den letzten Jahren zugesetzt haben mag. Heute noch schmerzt es, aber morgen schon wird es zu Staub zerfallen und nach Staub schmecken.«
    Roesia senkte den herausfordernden Blick. Wiewohl manches in ihrem Gesicht schief und unregelmäßig gewachsen war, war es nicht unangenehm, es zu mustern. Sophia fühlte die Willensstärke, die von der jungen Schwester ausging und die lebendiger war als all das Geplänkel und Gemurre und Getue der übrigen Mädchen und Frauen. Jenes mochte lauter sein als Roesias Stimme, aber es zeugte von verdorbenen Hoffnungen und vergärten Wünschen. Es war nicht frisch wie diese Absicht zu lernen und die Verbitterung, die dahinter stand.
    »Ich weise Euch gewiss nicht ab«, erklärte Sophia, »aber wenn Ihr von mir zu lernen wünscht, so gelte auch das: Manchmal deucht es mich, dass es zu wenig Schutz verspricht und Vergessen schenkt, die Dinge einfach nicht aufzuschreiben.«
    Die Worte deuchten die andere rätselhaft und unverständlich. Ohne ihren Sinn zu erfragen, ging Sœur Roesia an ihr vorbei und beugte sich über das Schreibpult.
    »Was ist es also, was Ihr da festhaltet?«, fragte sie.
    Sophia folgte ihr mit mildem Lächeln. »Es ist eine Chronik, welche berichtet, was sich in den letzten Jahrzehnten zugetragen hat. Von König Philippes Aufstieg, seinen Kriegen, seinem Zuwachs an Macht. Von der schwierigen Ehe mit Königin Isambour. Vom deutschen Thronstreit und den Folgen für das kleine Frankreich. Vom Interdikt, und wie es...«
    Sie hatte fortfahren wollen, doch sie wurde unterbrochen.
    Nun riss eine andere die Türe zu Sophias Zelle auf.
    »Sophia, komm schnell!«, rief Gret. »Isambour ist zusammengebrochen! Sie spuckt Blut!«
    Aus der Chronik
    Die Königinwitwe Isambour konnte in den beiden letzten Jahren ihres Lebens das Krankenlager nicht mehr verlassen.
    Im Jahr des Herrn 1236 empfing sie zum letzten Mal Besuch. Blanche, Witwe von Louis VIII. und gegen alle Widerstände Regentin für ihren Sohn Louis IX., kam mit ihren beiden jüngsten Kindern Isabelle und Charles, welche ernst und freudlos dreinblickten, sich aber gut erzogen gaben.
    Sie berichtete von der Schwierigkeit ihres Amtes – desgleichen von der Schließung der Pariser Universität. Nicht die Studenten hätten diesmal aufbegehrt, sondern die Professoren – und jene nicht gegen die Kirche, sondern gegen die Stadtverwaltung, die sich wiederholt in universitäre Belange gemischt hatte. Jetzt zogen die Studenten nach Toulouse, Reims und Angers – und ebenso nach Orléans, um hier ganz neue Konflikte zu erleben. Man sprach davon, dass die minderen Brüder der Bettelorden den Zugang zur Wissenschaft begehrten – jedoch oft kritisierten, was sie dort vorfanden.
    »So ist es recht«, sagte Sophia später zu Sœur Roesia, »nichts tötet den Geist mehr als die Starrheit – gibt es aber laute Diskussionen, muss man um den Fortgang der Wissenschaft nicht fürchten.«
    Sie dachte an Théodore, wie er jetzt lebte, wie viel er von dem bereute, was er getan, was er entschieden hatte, ob er, fern der Heimat und deren Zwängen, glücklich war oder ob ihm immer noch jene Schwermut anhaftete, wie sie Christian Tarquam ihm bescheinigt hatte. Ob er geahnt hatte, dass in den Bettelorden die Zukunft der Wissenschaft lag?
    Wiewohl sie keine Antwort auf diese Fragen kannte, fühlte sich Sophia in den Tagen nach Blanches Besuch leicht und beschwingt. Zwischen der Vergangenheit und dem jetzigen Leben schien kein Abgrund zu sein, über den sie mühsam kriechen musste, wann immer sie sich umdrehte. Wenn sie vor Roesia dozierte und für sie Texte aus dem Gedächtnis abschrieb, auf dass jene von den Grundlagen der Grammatik, der Physik, der Astronomie und der Philosophie erführe, so wähnte sie ihr eigenes Leben erstmals vollendet und nicht vermaledeit. Auch von Blanche hatte sie während deren Besuchs bei Isambour kein Wort der Verachtung gehört, nur freundliche Floskeln, die die Höflichkeit gebot, als würde jene – nun, da sie mit allen Kräften und ihrem ganzen Verstand um die Macht ihres Sohnes Louis kämpfte – endlich begreifen, was sie Sophia verdankte.
    In gleichem Ausmaß jedoch, wie Sophia sich gekräftigt, gestärkt, bestätigt fühlte, schwanden Isambours
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