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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin
Autoren: Julia Kröhn
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just in diesem Augenblick die Erinnerung nicht länger tot stellte, sondern stürmisch und bilderreich auf sie einprasselte und zugleich so verwirrend, dass sie das eine nicht vom anderen unterscheiden konnte. Es gab keine Ordnung – weder der Zeit noch des Raumes. Die Momente, die vor ihr auftauchten und die sie zu erhaschen suchte, stammten zugleich von der Kindheit und vom gestrigen Tag, von der Normandie und vom Hof des Stiftes, von der Geburt ihrer Kinder und von dem Gebet für die toten Schwestern.
    Die Stunden, Tage, Monate, die zwischen diesen Ereignissen standen, waren verschwunden oder auf die nichtige Dauer eines Wimpernschlags verkürzt, als sei das Leben kein Faden mit Anfang und Ende, sondern ein verknotetes, verfilztes Knäuel, wo sich alles in einem endlosen Kreis verstrickt.
    Wahllos zog Roesia an einem dieser Fäden.
    Er zeigte das Gesicht von Gret, der Heidin aus dem Norden, mit der sie unten auf dem Hof gestanden und über Sophia gesprochen hatte. Sie hätte die Chronik gekannt, behauptete Gret. Sie wäre einmal hochgestiegen in jenen Raum, der Sophia als Skriptorium diente, und ihr begegnet. Nicht lange hätten sich die beiden unterhalten, aber dann hätte Sophia auf ihre zweite Chronik gedeutet, und Gret hätte wohlwollend genickt, als sie ihr daraus vorgelesen.
    Ja, davon hatte Gret erzählt, als sie dort unten im nebligen Hof standen. Sie hatte es nur vergessen.
    »Denkst du«, hatte Roesia dann gefragt, »denkst du, dass die Chronik noch immer dort oben ist?«
    Es war ein Vorwand, um sie hinauf zu locken. Roesia wusste, dass die Chronik nicht im Skriptorium war – aber so war sie allein mit Gret. Niemand würde sie stören. Niemand sie aufhalten...
    »Roesia«, erklang flüsternd und warm Yolanthes Stimme, »Roesia, wie konntest du das nur tun? Du warst doch Sophias Vertraute! Du hast sie doch mehr geachtet als alle anderen!«
    Wieder schüttelte Roesia den Kopf. Schon verrutschte das Bild von Gret – und das von Cathérine erschien. Sie hatte sie in ihrer Zelle aufgesucht. »Hast du vielleicht nur geprahlt, als du meintest, von der Chronik deiner Mutter zu wissen?«, hatte Roesia sie gefragt.
    Cathérine hatte sie mit jenem Ausdruck von Spott und Traurigkeit betrachtet, der ihr eigen war. »Für gewöhnlich hat es mich nicht interessiert, was meine Mutter aufgeschrieben hat!«, hatte sie erklärt.
    »Doch diesmal schon«, hatte Roesia nachgehakt. »Ihre Chronik hast du gelesen.«
    Cathérine zuckte die Schultern, und trotz des fettigen Doppelkinns deuchte ihr Gesicht Roesia plötzlich mädchenhaft und unberührt von der Welt. Ihr schlichter Geist, der oft von schlechter Laune und Bösartigkeit verstellt war, spiegelte sich unverstellt in ihren Zügen.
    »Wisst Ihr«, hatte Cathérine gesagt, »nach dem Tod von Königin Isambour ist alles anders geworden. Ich... ich habe meine Mutter viele Jahre lang verflucht und gehasst. Aber dann... was dann geschehen ist... was sie für die Königin getan hat... Niemals hätte ich solches von ihr geglaubt. Ich kann’s bis heute kaum fassen, dass gerade sie vermocht hat, mich derart... zu rühren.«
    Ihre Stimme, manchmal krächzend, manchmal schrill, manchmal weinerlich, war nun zittrig.
    »Roesia!«, unterbrach Yolanthe ihre Erinnerung. »Warum hast du Sophia das angetan, obgleich niemand so oft ihre Nähe suchte wie du!«
    Ihr Gedächtnis verdunkelte sich wieder. Im letzten, schwachen Lichtschein sah Roesia Sophia vor sich – wie sie bei ihrem ersten Zusammentreffen an ihrem Schreibpult gesessen hatte.
    »Als ich Sophia das erste Mal aufsuchte«, begann sie stockend, »habe ich ihr von meinem Leben erzählt. Ich habe ihr gesagt, es soll nicht mehr weh tun, wenn ich darauf zurückblicke.«
    »Und sie? Was hat sie geantwortet?«

Kapitel XIX.
Anno Domini 1235 bis 1237
    »Es wird nicht aufhören wehzutun«, sagte Sophia.
    Roesias Stimme war grollender geworden, je mehr Sätze sie aneinandergereiht hatte. Es war, als würde sie keine Bitte aussprechen, sondern einen Schwur bekräftigen.
    »Ja«, wiederholte Sophia, nachdem die andere geendigt hatte, »es wird nicht aufhören wehzutun. Was immer Ihr erlebt habt – es wird nicht gut werden, nur weil ich Euch in die Wissenschaften einweihe.«
    Roesia straffte die Schultern, als wäre die, der sie eben noch größten Respekt gezollt hatte, plötzlich eine, vor der man sich schützen müsste.
    »Euer reiches Wissen«, erklärte sie stur, »ist doch das Einzige, was von Eurem Leben Bestand hat, oder nicht?
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