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Die Burg der Könige

Die Burg der Könige

Titel: Die Burg der Könige
Autoren: Oliver Pötzsch
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Stammbaum wird Euch führen und sagen, was zu tun ist.« Noch einmal griff der Barde in die Tasche. Er zog den Siegelring hervor und überreichte ihn gemeinsam mit dem Dokument. »Hier, nehmt. Wie es scheint, hat mir der Ring nur Unglück gebracht. Ich hätte ihn Euch niemals wegnehmen dürfen. Könnt Ihr mir trotzdem noch einmal verzeihen?«
    Agnes griff nach dem Pergament und dem Ring, der sich merkwürdig kalt zwischen ihren Fingern anfühlte.
    »Ich … ich verzeihe Euch«, erwiderte sie schließlich.
    »Danke. Ihr seid zu gütig.« Melchior hielt sich an einer der Säulen fest und blickte sie sehnsüchtig an. »Die Heilige Lanze … Dürfte ich sie noch einmal sehen?«
    »Wir haben sie nicht«, mischte sich Mathis ein. »Und wir wollen sie auch nicht mehr haben. Vor kurzem noch glaubte ich, ich müsste mit ihr die Welt verändern. Doch diese Zeiten sind vorbei.« Er deutete abfällig auf das Schieferdach unter ihnen. »Sie liegt da irgendwo in der Regenrinne, wo sie schon bald Blätter, Staub und Vogeldreck bedecken werden. Soll sie dort die nächsten dreihundert Jahre verrotten. Es ist mir gleichgültig.«
    Melchior starrte ihn mit offenem Mund an. »Aber … die … Heilige Lanze«, flüsterte er. »Sie darf nicht …«
    In diesem Augenblick war von fern ein Kreischen zu hören. Es kam näher, schließlich tauchte im Licht der Morgensonne über der Vierungskuppel ein großer Vogel auf. Er hatte die Flügel ausgebreitet und flog im steilen Winkel auf das unter ihnen liegende Schieferdach zu. Agnes blinzelte, um mehr zu erkennen, doch die Sonne stach ihr in die Augen. Der Tau auf dem Dach reflektierte die Sonnenstrahlen, unter ihr war nur ein einziges Schimmern zu erkennen. Wie ein glitzerndes Meer, in das der Vogel nun eintauchte. Plötzlich kam er wieder zum Vorschein, doch noch immer war er nicht genau auszumachen. Wenige Augenblicke später war das Tier genau über ihnen.
    In den Krallen trug es ein unterarmlanges graues Bündel.
    »Die Heilige Lanze!«, hauchte Mathis. »Das Vieh hat sich tatsächlich die Heilige Lanze geschnappt!«
    Ein letztes Mal zog der Vogel über ihnen einen Kreis, dann drehte er schließlich ab, wobei er noch einmal wie zum Abschied krächzte und lahnte. Und diesmal war sich Agnes ­sicher.
    »Das war Parcival«, sagte sie leise, aber bestimmt. »Parcival hat uns damals auf die Spur der Lanze geführt, und nun nimmt er sie uns auch wieder.«
    Mathis klammerte sich an der Balustrade fest und beugte sich weit hinaus, um mehr zu sehen. Doch der Vogel war bereits hinter den Türmen verschwunden.
    »Unsinn«, erwiderte er. »Das … das ist nicht möglich. Er war größer als dein Falke, eher ein Bussard oder ein Adler. Vermutlich will er damit nur sein Nest bauen, oder er meint, es wäre etwas zu fressen. Was du da behauptest, gibt es nur in Geschichten.« Er sah hinüber zu den Dächern der Stadt, hinter denen sich Sümpfe, Äcker und Wälder ausbreiteten. »Wo er die Lanze wohl hinbringt?«, murmelte er. »Vielleicht ist sein Horst ja in irgendeiner verfallenen Burg.«
    Agnes lächelte. »Hoffentlich nicht auf dem Trifels. Ich habe von Abenteuern eigentlich erst mal genug. Und solange die gefälschte Lanze in Nürnberg aufbewahrt ist, wird sie wohl auch keiner vermissen.«
    Sie wandte sich nach Melchior von Tanningen um, der auf dem Boden der Galerie zusammengesunken war. Der Barde kauerte an der Mauer, sein leerer, glasiger Blick ging hinaus in die Ferne, dorthin, wo der Vogel verschwunden war. In seinem Gesicht lag der Ausdruck vollkommenen Friedens.
    »Er ist tot«, sagte Mathis, nachdem er seine Hand prüfend auf die Brust des Barden gelegt hatte. »Ein Wunder, dass er es bei seinen schweren Verletzungen überhaupt noch hierherauf geschafft hat.« Er schüttelte den Kopf, dann schloss er Melchior sanft die Augen. »Was war er denn nun? Ein Freund? Ein Verräter? Ich habe ihn nie ganz durchschaut.«
    »Zumindest war er ein guter Geschichtenerzähler«, erwiderte Agnes traurig. »Ich hoffe, dass er den Falken noch gesehen hat und auf diese Weise erfahren konnte, wie seine Geschichte schließlich ausging.« Sie seufzte. »Alle Geschichten gehen irgendwann einmal zu Ende.«
    »Und unsere?«, fragte Mathis zögerlich.
    »Unsere? Unsere hat gerade erst angefangen.« Sie zögerte kurz. »Aber es ist eine Geschichte, die in der Zukunft spielt und nicht in der Vergangenheit.«
    Entschlossen zog Agnes das alte zerknitterte Pergament hervor und zerriss es in Dutzende von Fetzen, die sie in
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