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Die Buecher und das Paradies

Titel: Die Buecher und das Paradies
Autoren: Umberto Eco
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für immer - so und nicht anders gelaufen sind, ungeachtet der Wünsche des Lesers. Der Leser muß diese Frustration hinnehmen und durch sie den Schauder des Schicksals verspüren. Könnte man selber über das Schicksal der Personen entscheiden, wäre das, wie wenn man in einem Reisebüro gefragt würde: »Wo wollen Sie nun den Weißen Wal finden, bei den SamoaInseln oder den Aleuten? Und wann? Und wollen Sie ihn selber erlegen, oder soll Quiqueg das tun?« Die wahre Lehre von Moby-Dick ist, daß der Wal bläst, wo er will.
    Denken wir an die Beschreibung der Schlacht von Waterloo, die Victor Hugo in Les Misérables gibt. Im Unterschied zu Stendhal, der dieselbe Schlacht in der Chartreuse de Parme aus der Sicht seines Helden beschreibt, der mitten im Getümmel steckt und nicht kapiert, was vorgeht, beschreibt sie Hugo aus der Sicht Gottes, von hoch oben. Er weiß: Wenn Napoleon gewußt hätte, daß hinter dem Höhenzug des Plateaus von MontSamt-Jean ein jäher Abhang war (was ihm sein Führer nicht gesagt hatte), dann wären die Kürassiere Milhauds nicht zu Füßen des englischen Heeres aufgerieben worden, und wenn der Hirtenjunge, der Bülow als Führer diente, einen anderen Weg vorgeschlagen hätte, wäre das preußische Heer nicht rechtzeitig gekommen, um die Schlacht zu entscheiden.
    Mit einer hypertextuellen Struktur könnten wir die Schlacht von Waterloo neu schreiben, etwa indem wir anstelle von Blüchers Preußen die Franzosen von Grouchy eintreffen ließen, und es gibt war games, die dergleichen erlauben und großen Spaß machen. Doch die tragische Größe jener Seiten von Hugo liegt gerade darin, daß die Dinge eben - ungeachtet unserer Wünsche - so laufen, wie sie laufen. Die Schönheit von Krieg und Frieden liegt darin, daß der Todeskampf des Fürsten Andrej mit dem Tod endet, sosehr uns das auch betrüben mag. Die Erschütterung, die jede erneute Lektüre der großen Tragiker in uns auslöst, kommt daher, daß ihre Helden, die einem schlimmen Los hätten entfliehen können, aus Schwäche oder Blindheit nicht begreifen, worauf sie zugehen, und genau in den Abgrund stürzen, den sie sich selbst bereitet haben. Im übrigen sagt Victor Hugo ja selbst, nachdem er uns gezeigt hat, welche anderen Gelegenheiten Napoleon in Waterloo hätte ergreifen können:
    »Wäre es Napoleon möglich gewesen, jene Schlacht zu gewinnen? Wir antworten nein. Warum? Wegen Wellington? Wegen Blücher? Nein. Wegen Gott.«
    Das ist es, was alle großen Geschichten uns sagen, wobei sie nur manchmal Gott durch das Schicksal oder die unerbittlichen Gesetze des Lebens ersetzen. Die Funktion der »unabänderlichen« Erzählungen ist genau diese: Entgegen allen unseren Wünschen, das Schicksal zu ändern, lassen sie uns mit Händen greifen, daß es nun einmal nicht zu ändern ist. Und indem sie uns das vor Augen führen, erzählen sie, gleich welche Geschichte sie gerade erzählen, immer auch unsere eigene Geschichte, und deswegen lesen und lieben wir sie. Ihre strenge und »repressive« Lektion ist etwas, das wir benötigen. Das hypertextuelle Erzählen kann uns zu Freiheit und
    Kreativität erziehen. Sehr schön, aber das ist nicht alles. Die »schon fertigen« Geschichten lehren uns auch zu sterben.
    Ich glaube, diese Erziehung zu Fatum und Tod ist eine der Hauptfunktionen der Literatur. Vielleicht gibt es noch andere, aber die fallen mir jetzt nicht ein.
    1
Lektüre des Paradiso'
    »Deswegen wird das Paradiso wenig gelesen und wenig geschätzt. Ermüdend ist vor allem seine Monotonie, die fast wie eine Reihe von Fragen und Antworten zwischen Lehrer und Schüler anmutet.« So der große Literaturhistoriker Francesco De Sanctis vor 130 Jahren in seiner Storia della letteratura italiana, womit er einen Vorbehalt ausdrückte, den wohl jeder von uns in der Schule gemacht hat, es sei denn, wir hatten ganz außergewöhnliche Lehrer. Im übrigen findet man auch in einigen jüngeren Literaturgeschichten den Hinweis, daß die von der Romantik geprägte Kritik den dritten Teil der Divina Commedia nicht besonders schätzte - ein Urteil, das sich auch auf das folgende Jahrhundert ausgewirkt hat.
    Da ich im folgenden darlegen möchte, daß - natürlich -das Paradiso der schönste Teil der Divina Commedia ist, kommen wir noch einmal auf De Sanctis zurück, der zwar ein Mensch seiner Zeit war, aber auch ein Leser von außergewöhnlichem Feingefühl, und sehen wir uns an, wie seine Lektüre des Paradiso ein Musterbeispiel an innerer Zerrissenheit
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