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Die Buecher und das Paradies

Titel: Die Buecher und das Paradies
Autoren: Umberto Eco
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mysteriöse Erfahrung der Seele in ihrer Katharsis, das Leben der Anmut und Gnade als überraschende Freude, als Präludium einer freudvollen und heiligen Jahreszeit.« Für den mittelalterlichen Menschen war das Lesen über all diese Lichter so wie für uns das Phantasieren über die biegsame Anmut einer Diva, die elegante Stromlinienform eines Automobils, über Liebesgeschichten verlorener Liebender, kurze Begegnungen, tote Blätter, regnende Rosen, Erdbeerfelder, Lily Marleen oder Lovely Rita, aber mit einer Intensität der Leidenschaft und seelischen Schauern, die uns unbekannt sind. Alles andere als Lehrgedicht, alles andere als Frage-und-Antwort-Spiel zwischen Lehrer und Schüler!
    Womit wir zum zweiten Mißverständnis kommen, nämlich daß es keine Verstandesdichtung geben könne, die in der Lage wäre, uns nicht nur über den Kuß von Paolo und Francesca erschauern zu lassen, sondern auch über die Architektur der Himmel, die Natur der Dreieinigkeit, die Definition des Glaubens als Substanz des Erhofften und Beweis des Unsichtbaren. Gerade dieser Anspruch auf eine Dichtung des Intellekts kann das Paradiso auch für den modernen Leser faszinierend machen, der die dem mittelalterlichen vertrauten Bezugsrahmen verloren hat. Denn in der Zwischenzeit hat dieser Leser die Gedichte von John Donne, von Eliot, von Valéry oder Borges kennengelernt und weiß, daß Dichtung auch metaphysische Leidenschaft sein kann.
    Und apropos Borges, von wem hatte er die Idee des Aleph, jenes schicksalhaften Punktes, von dem aus man alles sehen kann, was es im Universum gibt, das bewegte Meer, die Morgen- und Abendröte, die Menschenmassen Amerikas, ein silbriges Spinnennetz inmitten einer schwarzen Pyramide, ein aufgebrochenes Labyrinth, das einst London war, eine Passage der Calle Soler mit den gleichen Fliesen, wie sie vor dreißig Jahren im Flur eines Hauses an der Calle Frey Bentos lagen, und Weintrauben, Schnee, Tabak, Metalladern, Wasserdampf, aufgewölbte Wüsten am Äquator, in Inverness eine unvergeßliche Frau, in einem Landhaus in Adrogué ein Exemplar der ersten englischen Plinius-Übersetzung, gleichzeitig alle Buchstaben auf allen Seiten, einen Sonnenuntergang in Queretaro, der die Farbe einer Rose in Bengalen widerzustrahlen scheint, einen Erdglobus zwischen zwei Spiegeln, die ihn endlos vervielfältigen in einem Kabinett von Alkmaar, einen Strand am Kaspischen Meer in der Morgenfrühe, ein spanisches Kartenspiel in einem Schaufenster in Mirzapur, Dampfkolben, Bisons, Sturzfluten, alle Ameisen, die es auf der Erde gibt, ein persisches Astrolabium, die schaurigen Überreste der einst so lieblichen Beatriz Viterbo usw. usf.? Das erste Aleph ist jenes im letzten Gesang des Paradiso, als Dante sieht, legato con amore in un volume / cid che per l ’universo si squaderna, / sustanze e accidenti e lor costume / quasi conflati insieme (»in einem Band mit Liebe eingebunden / all das, was sonst im Weltall sich entfaltet, / Substanz und Akzidenz und ihr Verhalten / gleichsam in eins verschmolzen«). Indem er sich la forma universal di questo nodo (»die Grundform dieses Knotens«) klarmacht und mit »hochgespanntem Geist« und »knapper Sprache« beschreibt, sieht Dante in jener »klaren Subsistenz« drei Kreise in drei Farben, und nicht wie Borges die schaurigen Reste der Beatriz Viterbo, denn seine Beatrice, die vor langer Zeit zu einem schaurigen Rest geworden war, ist ihm als Licht zurückgekehrt. Infolgedessen ist Dantes Aleph leidenschaftlicher hoffnungsfroh als das von Borges, der sehr wohl wußte, daß ihm das Paradies verschlossen war und nur Buenos Aires blieb.
    So kann vielleicht gerade im Licht der jahrhundertelangen Entwicklungen einer Verstandesdichtung das Paradiso heute besser gelesen und geschätzt werden als noch zu Zeiten eines De Sanctis. Aber ich möchte hier noch etwas hinzufügen, um die Phantasie der Jüngeren unter uns anzuregen - oder auch derer, die sich weder für
    Gott noch für den Intellekt besonders interessieren. Dantes Paradiso ist die Apotheose des Virtuellen, des Immateriellen, der reinen Software, frei vom Gewicht der irdischen und der höllischen Hardware, deren Abfälle im Purgatono bleiben. Das Paradiso ist mehr als modern, es kann für den Leser, der die Geschichte vergessen haben mag, aufregend zukunftsträchtig werden. Es ist der Triumph einer puren Energie, das, was das Netz der Netze uns immer verspricht und niemals geben kann, es ist eine himmelhohe Verklärung von Strömen, von
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