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Die Buecher und das Paradies

Titel: Die Buecher und das Paradies
Autoren: Umberto Eco
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genügen zu antworten, wie ich es schon getan habe, daß sie ein Gut ist, welches um seiner selbst willen konsumiert wird und daher zu nichts dienen muß. Aber eine so körperlose und abgehobene Sicht des literarischen Vergnügens liefe Gefahr, die Literatur auf etwas wie Jogging oder das Lösen von Kreuzworträtseln zu reduzieren - Tätigkeiten, die überdies beide zu etwas dienen, die eine zur Leibesertüchtigung und die andere zur Erweiterung des Wortschatzes. Was ich hier behandeln möchte, ist daher eine Reihe von Funktionen, welche die Literatur für unser individuelles Leben und für das der Gesellschaft erfüllt.
    Zunächst einmal hält Literatur die Sprache als kollektives Erbe lebendig. Die Sprache geht per defini-tionem, wohin sie will, kein Dekret von oben, weder von selten der Politik noch einer Akademie, kann ihren Gang aufhalten und sie zu Positionen umleiten, die man für besser hält. Der Faschismus hat sich bemüht, uns mescita statt bar sagen zu lassen, coda di gallo statt cocktail, rete statt goal und auto pubblica statt taxi, aber die Sprache ist ihm nicht gefolgt. Dann hat er eine lexikalische Monstrosität vorgeschlagen, einen inakzeptablen Archaismus wie autista anstelle von chauffeur, und die Sprache hat ihn akzeptiert. Vielleicht weil sie damit einen im Italienischen fremden Laut vermeiden konnte. Sie hat das Wort taxi behalten, aber sie hat es allmählich, zumindest in der gesprochenen Sprache, zu tassi werden lassen.
    Die Sprache geht, wohin sie will, aber sie ist empfänglich für die Anregungen der Literatur. Ohne Dante hätte sich kein gemeinsames Italienisch gebildet. Als Dante in seiner Schrift De vulgari eloquentia die verschiedenen italienischen Dialekte analysierte und verwarf und sich vornahm, ein volgare illustre zu schaffen, eine veredelte italienische Volkssprache, hätte niemand einen roten Heller auf einen solchen Akt des Hochmuts gewettet, und doch hat er mit der Divina Commedia das Spiel gewonnen. Gewiß hat Dantes »illustre Mundart« mehrere Jahrhunderte gebraucht, um eine von allen gesprochene Sprache zu werden, aber wenn es ihr schließlich gelungen ist, dann deshalb, weil die Gemeinschaft der an die Literatur Glaubenden sich während der ganzen Zeit an jenes Modell gehalten hatte. Und wenn es jenes Modell nicht gegeben hätte, wäre vielleicht auch die Idee einer politischen Einheit nicht zum Durchbruch gekommen. Vielleicht ist das der Grund, warum Bossi kein volgare illustre spricht. 3
    Zwanzig Jahre voll schicksalhafter Höhen, unabänderlicher Bestimmungen, unvermeidlicher Geschehnisse und unermüdlich die Scholle furchender Pflüge haben am Ende keine Spur im geläufigen Italienisch hinterlassen, viel weniger jedenfalls als manche zu ihrer Zeit inakzeptablen Kühnheiten der futuristischen Prosa. Und wenn heute jemand den Triumph eines durch das Fernsehen verbreiteten Durchschnittsitalienisch beklagt, dann sollten wir nicht vergessen, daß der Appell zu einem Durchschnittsitalienisch in seiner edleren Form durch die klare und akzeptable Prosa eines Manzoni und dann eines Svevo oder Moravia gegangen ist.
    Indem die Literatur dazu beiträgt, die Sprache zu formen, schafft sie Identität und Gemeinschaft. Ich habe von Dante gesprochen, aber bedenken wir nur, was die griechische Zivilisation ohne Homer gewesen wäre, die deutsche Identität ohne die Tradition der Lutherbibel, die russische Sprache ohne Puschkin, die indische Kultur ohne ihre Gründungsepen.
    Der Umgang mit Literatur hält aber auch unsere individuelle Sprache lebendig. Viele beklagen heute die Geburt eines neuen Telegrammstils, der sich durch die Praxis der E-Mails und die Kurzbotschaften der Mobiltelefone aufdrängt, in denen man selbst »Ich liebe dich« mit einem Kürzel schreiben kann; aber vergessen wir nicht, daß die Jugendlichen, die einander Botschaften in dieser neuen Kurzschrift senden, zumindest teilweise dieselben sind, die jene neuen Kathedralen des Buches füllen, als welche sich die großen mehrgeschossigen Buchhandlungen darstellen, und die, selbst wenn sie die Bücher nur durchblättern und nicht kaufen, mit kultivierten und elaborierten literarischen Stilen in Berührung kommen, denen ihre Eltern und mit Sicherheit ihre Großeltern niemals ausgesetzt waren.
    Gewiß können wir sagen, daß diese Jugendlichen, eine Mehrheit im Verhältnis zu den Lesern früherer Generationen, nur eine Minderheit im Verhältnis zu den sechs Milliarden Erdbewohnern sind, und ich bin auch nicht so
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