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Die Buecher und das Paradies

Titel: Die Buecher und das Paradies
Autoren: Umberto Eco
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Kugel geblieben ist. Eine interessante Frage für Stendhal-Fans. So wie Joyce-Fans nach Dublin pilgern, um dort unter anderem nach der Apotheke zu suchen, in der Leopold Bloom ein zitronenförmiges Stück Seife gekauft haben soll (und um diese Pilger zu befriedigen, hat jene Apotheke, die es tatsächlich gibt, sich darauf verlegt, diese Seifenstücke erneut zu produzieren), so könnte man sich Stendhal-Jünger vorstellen, die versuchen, in unserer realen Welt das Städtchen Verrières und dessen Kirche zu finden, um dort jede Säule nach dem Loch abzusuchen, das jene erste Kugel gemacht haben müßte. Das wäre ein amüsanter Fall von fanship. Nehmen wir aber nun an, ein Kritiker wollte seine ganze Interpretation des Romans auf den Verbleib jener verlorenen Kugel gründen. In unseren heutigen Zeiten wäre das nicht ganz unvorstellbar, bedenkt man, daß es jemanden gegeben hat, der seine ganze Deutung des Entwendeten Briefes von Poe auf die Position des Briefes über dem Kamin gegründet hatte. Doch während Poe die Position jenes Briefes explizit angibt und somit relevant gemacht hat, sagt Stendhal implizit, daß über jene erste Kugel nichts weiter bekannt ist, womit er sie sogar aus dem Kreis der fiktiven Entitäten ausschließt. Hält man sich treu an den Text, so ist jene Kugel definitiv verloren, und die Frage, wo sie geblieben sein mag, ist für die Erzählung irrelevant. Dagegen treibt in Armance das Nichtgesagte über die mögliche Impotenz des Helden den Leser zu wilden Hypothesen, mit denen er sich ergänzt, was die Erzählung ungesagt läßt, und in den Promessi Sposi läßt ein Satz wie »la sventurata rispose« 4 offen, wie weit Gertrude in ihrer Sünde mit Egidio gegangen ist, aber die düstere Aura der Vermutungen, die dem Leser dadurch nahegelegt werden, ist Teil der Faszination dieser so schamhaft elliptischen Seite.
    Am Anfang der Drei Musketiere lesen wir, daß d’Artagnan am ersten Montag des Monats April 1625 auf einem vierzehn Jahre alten Klepper in Meung ankam. Wer ein geeignetes Programm in seinem Computer hat, kann rasch feststellen, daß jener Montag der 7. April gewesen sein muß. Ein Leckerbissen für trivia games unter DumasFans. Kann man nun aber auf dieses Datum eine MetaInterpretation des Romans gründen? Ich denke nicht, denn der Text mißt diesem Datum keine weitere Bedeutung bei, er macht es nicht relevant. Der weitere Verlauf des Romans macht nicht einmal relevant, daß d’Artagnan an einem Montag eingetroffen ist - während der Umstand, daß es April war, durchaus Relevanz hat (erinnern wir uns: um zu verbergen, daß sein prächtiges Wehrgehänge nur vorn bestickt war, trug Porthos einen langen karmesinroten Samtmantel, den die Jahreszeit nicht rechtfertigte, so daß der Musketier eine Erkältung vortäuschen mußte).
    Solche Dinge mögen für viele von uns Selbstverständlichkeiten sein, aber an diesen Selbstverständlichkeiten (die oft übersehen werden) wird deutlich: Die Welt der Literatur hat es an sich, uns darauf vertrauen zu lassen, daß es in ihr eine Reihe von unanfechtbaren, nicht in Zweifel zu ziehenden Aussagen gibt, mit anderen Worten, daß sie uns ein - wie immer auch imaginäres - Modell der Wahrheit vorsetzt. Und diese literarische Wahrheit strahlt auch auf jene aus, die wir die hermeneutischen Wahrheiten nennen: Würde jemand behaupten, d’Artagnan werde von einer homosexuellen Leidenschaft für Porthos getrieben, oder der Ungenannte bei Manzoni sei durch einen tief sitzenden Ödipuskomplex zum Bösen verleitet worden, oder die Nonne von Monza sei - wie gewisse Politiker heute insinuieren könnten - vom Kommunismus verdorben worden, oder Panurge tue das, was er tut, aus Abscheu gegen den aufkommenden Kapitalismus, so könnten wir jedesmal entgegnen, daß in den betreffenden Texten keinerlei Aussage oder Andeutung oder Insinuation zu finden ist, die uns zu derlei interpretatorischen Abwegigkeiten ermächtigt. Die Welt der Literatur ist ein Universum, in dem man Tests machen kann, um festzustellen, ob ein Leser noch Sinn für die Realität hat oder bereits seinen Halluzinationen zum Opfer gefallen ist.
    Literarische Figuren wandern. Wir können wahre Aussagen über sie machen, weil das, was ihnen widerfährt, in einem Text aufgezeichnet worden ist, und ein Text ist wie eine musikalische Partitur. Daß Anna Karenina Selbstmord begeht, ist ebenso wahr wie daß Beethovens Fünfte in c-moll steht (und nicht in F-Dur wie die Sechste) und daß sie mit g-g-g-es
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