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Die Buecher und das Paradies

Titel: Die Buecher und das Paradies
Autoren: Umberto Eco
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anfängt. Manchen literarischen Figuren - nicht allen - passiert es jedoch, daß sie aus dem Text, in dem sie geboren sind, heraustreten, um in eine Region des Universums zu wandern, die sich schwer eingrenzen läßt. Wenn sie Glück haben, wandern sie von Text zu Text, und wenn sie das nicht tun, liegt es nicht daran, daß sie von anderer Wesensart wären als ihre glücklicheren Geschwister; sie haben nur einfach kein Glück gehabt, und wir haben uns nicht mehr mit ihnen beschäftigt.
    Von Text zu Text gewandert (und durch Anpassung an verschiedene Substanzen von Buch zu Film oder auch zu Ballett oder von mündlicher Überlieferung in geschriebene Texte) sind sowohl Personen der Mythologie als auch solche der »weltlichen« Erzählliteratur wie Odysseus/ Ulysses, Jason, Artus, Parzival, Alice, Pinocchio, d’Artagnan usw. Wenn wir nun von solchen Personen sprechen, beziehen wir uns dann auf eine bestimmte »Partitur«? Nehmen wir den Fall Rotkäppchen. Die beiden berühmtesten Partituren, die von Perrault und die der Brüder Grimm, unterscheiden sich beträchtlich. In der ersten wird Rotkäppchen vom bösen Wolf verschlungen, und damit endet die Geschichte, so daß sie uns zu ernsten moralischen Reflexionen über die Gefahren der Unvorsichtigkeit anregt. In der zweiten kommt der Jäger, tötet den Wolf und holt Rotkäppchen samt Großmutter ins Leben zurück. Happy-End.
    Stellen wir uns nun eine Mutter vor, die ihren Kindern das Märchen erzählt und an der Stelle aufhört, wo der Wolf Rotkäppchen verschlungen hat. Die Kinder würden protestieren und nach der »wahren« Geschichte verlangen, in der Rotkäppchen wiederaufersteht, und es würde wenig nützen, wenn die Mutter sich zur streng texttreuen Philologin erklärte. Die Kinder kennen eine »wahre« Geschichte, in der Rotkäppchen wirklich wiederaufersteht, und diese Geschichte steht der Grimmschen Version näher als der von Perrault. Aber sie fällt nicht mit dem Text der Grimms zusammen, denn sie läßt eine Reihe nebensächlicher Fakten beiseite, in denen auch die Grimms und Perrault voneinander abweichen, wie zum Beispiel die Frage, welche Art von Geschenken Rotkäppchen der Großmutter bringt, ein Detail, über das die Kinder durchaus mit sich handeln lassen, denn sie berufen sich auf ein viel schematischer gezeichnetes Individuum, das in der Tradition fluktuiert und sich in verschiedenen Partituren niedergeschlagen hat, von denen viele mündlich sind.
    So werden Rotkäppchen, d’Artagnan, Ulysses oder Madame Bovary zu Individuen, die außerhalb ihrer Originalpartituren leben und über die auch solche Personen, die nie den Urtext gelesen haben, wahre Aussagen machen können. Noch bevor ich König Ödipus gelesen hatte, war mir schon bekannt gewesen, daß Ödipus Jokaste heiratet. Doch wie fluktuierend diese Individuen immer auch sein mögen, sie sind nicht völlig undefinierbar. Wer behaupten würde, daß Madame Bovary sich am Ende mit Charles versöhnt und glücklich mit ihm weiterlebt, würde auf die Mißbilligung aller mit gesundem Menschenverstand begabten Flaubert-Leser stoßen, als hätten sie sich gemeinsam über Emmas Person verständigt.
    In welcher Region leben nun diese fluktuierenden Individuen? Es hängt vom Format unserer Ontologie ab, ob darin auch die Quadratwurzeln, die etruskische Sprache und die zwei Vorstellungen von der Heiligen Dreifaltigkeit Platz finden - ich meine die römische, nach welcher der Heilige Geist vom Vater und vom Sohn ausgeht (ex Patre Filioque procedit), und die byzantinische, nach welcher der Geist allein vom Vater ausgeht. Aber diese Region hat ein recht unbestimmtes Statut und beherbergt Entitäten von unterschiedlichster Konsistenz, denn auch der Patriarch von Konstantinopel (der stets bereit ist, sich mit dem Papst über das filioque zu streiten) würde dem Papst darin zustimmen (hoffe ich jedenfalls), daß es wahr ist, daß Sherlock Holmes in der Baker Street wohnte und Clark Kent dieselbe Person wie Superman ist.
    Nun steht jedoch in unzähligen Romanen oder Poemen geschrieben, daß - ich erfinde Beispiele aufs Geratewohl -Hasdrubal Corinna umbringt oder Theophrast Theodolinda wahnsinnig liebt, und trotzdem glaubt niemand, daß man wahre Aussagen über sie machen könnte, denn es handelt sich um glücklose oder schlecht gezeichnete Figuren, die weder gewandert noch in die kollektive Erinnerung eingegangen sind. Warum ist es in dieser Welt wahrer, daß Hamlet Ophelia nicht heiratet, als daß Theophrast
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