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Die Brut

Titel: Die Brut
Autoren: Thea Dorn
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anstrengenden Pflichten nachgehen musste – gar nicht mehr wusste, wo ihr der Kopf stand.« Arndt Kramer strengte sich merklich an, seiner Stimme, die sonst so nüchtern müde klang, einen Märchenton zu geben. »Eines Nachts nun – es war eine viel zu warme Sommernacht, das Kind schrie schon wieder –, da wusste die Prinzessin nicht mehr ein und aus. In ihrer Verzweiflung nahm sie das Kind, das sie doch so sehr liebte, und schleuderte es von der höchsten Zinne ihres Schlosses in die Tiefe hinunter. Nur damit endlich Stille war.«
    Das brennende Ende von Tessas Zigarette zitterte in der Dunkelheit wie ein Glühwürmchen, das sich in die falsche Jahreszeit verirrt hatte.
    »Kennen Sie das Märchen etwa doch?«, fragte der Kommissar und betrachtete das Glühwürmchen.
    Für einen kurzen Moment schloss Tessa die Augen. Ihr Brustkorb war so eng, als sei ein Zwanzig-Tonner darüber gerollt.
    »Nein«, sagte sie mit fester Stimme. »Nie gehört.«
    Atmen. Sie musste dringend wieder atmen. Der Druck in ihrem Kopf war kaum zu ertragen.
    »Na, dann erzähl ich mal weiter«, sagte der Kommissar gut gelaunt. »Die Prinzessin war natürlich ganz und gar verzweifelt, als sie begriff, was sie getan hatte. Die Öffentlichkeit würde sie steinigen, wenn sie erfuhr, dass sie ihr Kind getötet hatte. Also überlegte sie, wie sie es anstellen könnte, dass niemand von dem Kindsmord erfuhr.«
    Es war kein Mord. Es war ein Unfall
. Hunderte Nachtfalter, die die ganze Zeit still an den Wänden von Tessas Schädelhöhle ausgeharrt hatten, flatterten auf.
    »Und weil die Prinzessin nicht nur eine schöne, sondern auch eine schlaue Prinzessin war, hatte sie bald einen Plan. Am nächsten Morgen lief sie ganz früh in den Wald hinein, nahm einen Stock, schlug ihn sich selber über den Kopf und schrie:
Hilfe! Ich bin überfallen worden! Hilfe! Jemand hat mein Kind geraubt!
– Langweile ich Sie?«, fragte der Kommissar unvermittelt.
    »Überhaupt nicht«, gab Tessa zurück. Ihr Körper war eine Gruft. Es gab keinen Winkel mehr, in dem die Motten nicht herumschwirrten. Und plötzlich, als hätten die Falter eine geheime Öffnung gefunden, von deren Existenz Tessa nichts wusste – ihre Lippen waren fest verschlossen –, strömten sie nach draußen. In ihren Ohren hörte Tessa das Surren, ein nicht enden wollender Schwarm stieß in die kalte Nachtluft hinaus. Und da erst begriff Tessa, was geschah. Die Motten nahmen sie mit. Jedes kleine Teil ihres Innenlebens, jede Stelle, die sie mit ihren mehlig schwarzen Flügelschlägen gezeichnet hatten, trugen sie fort. Und als der letzte Falter in der Nacht verschwand, war auch Tessa nicht mehr da.
    Der Mann mit dem hochgeschlagenen Kragen lächelte. Die Frau, die leere Karkasse, die neben dem Mann an der Brüstung zurückgeblieben war, lächelte auch. Mit ruhiger Hand drückte sie ihre Zigarette im Aschenbecher aus.
    »Aber sagten Sie nicht, dass es in dem Märchen auch um einen Wolf geht?«, fragte sie. Ihre Stimme klang wie ein Gerät, das lange nicht benutzt worden, aber gut geölt war.
    »Ah. Sie kennen die Geschichte also doch. Wollen Sie nicht weiter erzählen?«
    »Nein. Ich höre Ihnen sehr gern zu.«
    »Also dann«, sagte der Mann. »Immer, wenn im Königreich ein Verbrechen geschah, wurde der Wolf gerufen. So auch an diesem Morgen. Der Wolf hatte natürlich schon von der Prinzessin gehört, hatte sie oft im Fernsehen bewundert, und deshalb überkam ihn ein tiefes Mitgefühl, wie er sie da so schmutzig und blutig auf der Lichtung sitzen sah. Er eilte gleich zu der Stelle, wo der Überfall stattgefunden hatte. Doch plötzlich kamen ihm Zweifel. Warum hatte der böse Kindsdieb der Prinzessin so tief im Wald aufgelauert? Hätte er sie nicht näher beim Waldesrand überfallen müssen, wo er mit dem geraubten Kind gleich in eine Kutsche springen konnte? Und warum hatte niemand von den Untertanen, die an diesem Morgen ebenfalls in dem Wald spazieren gewesen waren, etwas gesehen oder gehört? Immerhin musste der Dieb mit dem schreienden Kind doch eineinhalb Kilometer quer durch den Wald gelaufen sein.«
    Die Frau an der Brüstung lachte. »Das steht wirklich alles in dem Märchen drin?«
    »Sie haben Recht«, antwortete der Mann. »Ich verliere mich in Einzelheiten. – Der Wolf begann also, der Prinzessin ein wenig zu misstrauen, zumal er sie zum Fuchs gebracht hatte, der im Königreich die Toten und Verwundeten untersuchte.«
    Wieder stieß die Frau ein Lachen aus.
    »Warum lachen Sie?«
    »Nur
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