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Die Brut

Titel: Die Brut
Autoren: Thea Dorn
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die Tür mit einem sanften Ruck zu.
    Es war dunkle Nacht, als sie aus dem Fahrstuhl auf das Kopfsteinpflaster hinaustrat. Die beiden Bogenlampen erleuchteten den Hof nur schwach. Das Taxi war noch nicht da, obwohl Tessa es vor zehn Minuten gerufen hatte. Der Nordwind stach durch ihren dünnen Ledermantel. Sie öffnete ihre Handtasche, um das Handy herauszuholen.
    Sie hatte die Tastensperre gelöst und wollte im Telefonbuch die gespeicherte Nummer ansteuern, als sie innehielt. Ein Geräusch. Ein leises Wimmern. Sie kniff die Augen zusammen. Nichts. Sie hatte sich getäuscht.
    Taxi
.
    Tessa drückte die grüne Taste und hörte, wie sich die Verbindung aufbaute.
    Da. Da war es wieder. Eine Katze, die sich verlaufen hatte.
    »Taxifunk, einen wunderschönen guten Abend. Was kann ich für Sie tun?«
    Sie hielt das Telefon von ihrem Ohr weg. Katzen jammerten nicht so. In der Paarungszeit vielleicht, aber nicht mitten im Winter.
    »Hallo?«
    Das Tier musste sich verletzt haben. Eingeklemmt sein. Langsam ging Tessa um den Mauervorsprung, hinter dem der Eingang zum alten Treppenhaus lag. Vielleicht war das Tier mit einer Pfote in der Stahltür gefangen. Die Tür musste mindestens vier Zentner wiegen.
    »Hallo, hören Sie mich? Hallo?«
    Der Wind pfiff noch schärfer, als sie um die Mauerkante bog. Vor der Stahltür stand etwas. Tessas Augen tränten, als sie versuchte, in der Dunkelheit besser zu erkennen. Das Ding war hüfthoch. Ein Wagen. Ein Karren. Ein –
    Tessa blieb stehen, auf der Stelle erstarrt.
    »Hallo?«
    Die Kälte, die vorher nur draußen gewesen war, hatte den Weg in ihren Körper gefunden. Rippe für Rippe kroch sie in ihr empor. Stur hielten ihre Füße auf den Kinderwagen zu.
    »Hallo, sagen Sie doch was!«
    Es konnte nicht sein. Jemand spielte ihr einen Streich. Einen unmenschlichen Streich. Ihr Blick hetzte nach links, rechts, die Fassaden hinauf, wo war die Kamera, die ihr entsetztes Gesicht einfangen wollte?
    Na wartet, ihr kriegt mich nicht! So nicht!
    Nur noch drei Schritte, und sie war bei dem makabren Gefährt, riss es herum.
    Der Schrei blieb ihr im Hals stecken. Sie taumelte zurück, ihr linker Absatz verfing sich in einem Spalt, sie stolperte, das Handy schlitterte über das frostige Kopfsteinpflaster und verstummte. Nur noch der Wind. Das schrille Pfeifen. Und das Wimmern des Kindes, das in dem Buggy saß. Dick eingepackt in Decken und Mützen und Schals. Es musste eine Puppe sein – diejenigen, die ihr das antaten, verdienten gehenkt zu werden – jetzt hob das Ding die Arme. Eine Puppe mit Motor. Streckte ihr die Arme entgegen und wimmerte.
    Tessa stand auf, in ihrem linken Knöchel gab es einen Stich, der sie beinahe wieder stürzen ließ. Es war keine Puppe, Fleisch und Blut, weiß stieg sein Atem in die Nacht.
    Hinter ihr näherte sich Motorengeräusch. Wie ein Schneepflug bahnte sich Scheinwerferlicht seinen Weg durch die Dunkelheit, kletterte die Wand hinauf, bis –
    Alle Schreie, die sich in den letzten Sekunden in Tessas Hals aufgestaut hatten, brachen auf einmal hervor.
    Es gab keinen Zweifel. Die blonden Locken. Die großen Augen. Victor war zurück.
    »Entschuldigung? Hallo? Haben Sie das Taxi bestellt? Ist etwas passiert? Hallo?«
    In Zeitlupe drehte sie sich um. Nur am Rande konnte sie wahrnehmen, dass der Mann, der aus dem Wagen gestiegen war, dünne rote Haare hatte, die unter einer schwarzen Wollmütze hervorschauten. Ihr Verstand war in sich zusammengestürzt wie ein Kartenhaus, das ein hybrider Baumeister zu hoch gebaut hatte.
    Nehmt mich mit. Ihr könnt mich haben. Ich leiste keinen Widerstand.
    Der Schrei in ihrem Rücken löste die Starre. Sebastian – herbeigelockt durch ihr eigenes Geschrei – stand in den geöffneten Fahrstuhltüren, Hemd, Cordhose, nichts als Hausschuhe an den Füßen. Tessa sah ihn die Hände vor den Mund schlagen. Er rannte los, an ihr vorbei, sein rechter Arm streifte sie, ein Hausschuh blieb am eisigen Boden kleben. Vor dem Buggy stürzte er auf die Knie, ungeduldig zerrten seine Hände an den Gurten, mit denen das Kind festgeschnallt war.
    Endlich hatte er den Verschluss gelöst, hob das wimmernde Kind an seine Brust.
    Tessa sah, wie es sich gegen die Umarmung sträubte, den Kopf weit in den Nacken bog und schrie. In alle Richtungen, in die sich ein Körper bewegen kann, trat und zuckte es. Und plötzlich hielt es inne. Mitten in seiner konvulsivischen Wut blickte es Tessa an. Und lächelte.
    »Oh mein Gott … kann es nicht glauben …
Mein
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