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Die Brut

Titel: Die Brut
Autoren: Thea Dorn
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Parkplätzen der Stadt aufgetaucht waren, darüber verständigt, dass es für sie in diesem Jahr keinen Baum geben würde. Keinen Stollen. Keine Lieder. Beim teuersten Herrenausstatter hatte Tessa einen schwarzen Seidenschal gekauft. Sie war sich nicht mehr sicher, ob sie Sebastian den Schal mitgeben würde. In drei Tagen fuhr er ins Tessin. Sie selbst hatte ihm vorgeschlagen, dass er Weihnachten bei seinen Eltern verbringen sollte. Es machte ihr nichts aus, allein zu sein.
    Ein Blick auf den Nachttischwecker erinnerte Tessa daran, dass sie sich umziehen musste. Sie hatte keine wirkliche Lust auf die Benefiz-Gala für krebskranke Kinder, die heute Abend in der Oper stattfand, aber es würde ihr gut tun, aus dem Haus zu kommen. Nach anfänglichem Sträuben hatte sich sogar Sebastian bereit erklärt, sie zu begleiten. Seit Wochen war sie nirgends mehr hingegangen, obwohl sie in diesem Herbst und Winter fünfmal so viele Einladungen bekommen hatte wie im vorigen Jahr. Magazine, Sender, die
Charity-Ladys
der Stadt – jeder, der ein Fest gab, wollte sie dabeihaben. Ihr letzter öffentlicher Auftritt war beim Presseball gewesen. In der Woche darauf hatte es in einem Magazin ein ganzseitiges Foto von ihr gegeben, im metallic-grauen bodenlangen Kleid, wie sie an einem Champagnerglas nippte und lachte. Sie hatte Sebastian zu erklären versucht, dass es nichts bedeutete, dass es unendlich peinlicher gewesen wäre, wenn sie den ganzen Abend mit Trauermiene in der Ecke gestanden hätte. Sie hatte ihn daran erinnert, dass er seinen Film schließlich auch im Januar herausbringen wollte.
Ein Film ist ein Film
, hatte er gesagt,
und keine Party
. Den restlichen Monat hatte er kein unnötiges Wort mit ihr gesprochen.
    Es wurde Zeit, dass sie endlich wieder arbeiten konnte. Ihre Popularität war so groß wie nie. Aber Attila hatte sie gewarnt.
Warte noch ein paar Monate. Glaub mir. Die Leute lieben dich jetzt, weil du die tragische Mutter bist. Wenn sie dich zu früh wieder im Fernsehen sehen, bist du die kalte bitch.
    Tessa zog das rote Kostüm mit den weißen Ärmelaufschlägen an, das sie letzte Woche extra für die Gala gekauft hatte. Sie betrachtete sich im Spiegel und erkannte den Weihnachtsmann. Wütend riss sie sich den roten Fetzen vom Leib, öffnete alle Türen zu ihrem Kleiderschrank. Ihre Hände durchwühlten Hemden, Hosen, Röcke, Anzüge, Mäntel, alles in den letzten Monaten gekauft. Nichts erschien ihr passend. Das Bauchschlitzkleid, das sie nach der Geburt zu einem geschlossenen, langärmeligen Kleid hatte umnähen lassen, wäre das Richtige gewesen für heute Abend. Im Herbst hatte sie es aussortiert, weil kein Platz mehr gewesen war im Schrank.
    Sie mussten umziehen. Ein größeres Haus mieten, am besten außerhalb der Stadt, an einem See. Aber Sebastian wollte nicht. Jedesmal, wenn sie das Thema ansprach, sagte er nur:
Ich bleibe hier, bis Victor wieder da ist
.
    Tessas Hände holten einen schlichten dunkelgrauen Anzug hervor. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn gekauft zu haben. Er war ideal für heute Abend.
    Fertig angezogen und geschminkt klopfte sie eine halbe Stunde später an der Tür zu Sebastians Arbeitszimmer. Seitdem die Abhörspezialisten der Polizei im Spätsommer das Feld ergebnislos geräumt hatten, war Sebastian hierher zurückgekehrt.
    Er saß an seinem Schreibtisch, tief über ein Buch gebeugt. Dennoch hatte Tessa das Gefühl, er tat nur so, als würde er lesen.
    »Bist du noch nicht umgezogen?«
    Er schaute auf die Art-déco-Uhr seiner Großmutter. »Oh verdammt.«
    »Ich habe dir doch gesagt, dass wir um halb sechs losmüssen.«
    »Es tut mir Leid, ich habe es vergessen.« Seine Augen lagen tiefer in den Höhlen als vor einem halben Jahr. Gelbe Schleier hatten sich über das einst so klare Augenweiß gelegt.
    »Willst du nicht lieber allein gehen?«
    Tessa sah ihn an. Sie konnte
Nein
sagen, zu ihm hingehen, ihn an sich drücken, auf die kahler werdende Stelle an seinem Hinterkopf küssen,
Ich liebe dich
sagen und:
Wir haben doch schon so lange nichts mehr zusammen unternommen
.
    Aber sie zuckte die Achseln und drehte sich um. Im Gehen warf sie einen Blick auf das schmale Gästebett, in dem Sebastian nun seit vielen Wochen schlief. Der Smoking, den sie ihm heute Mittag aus dem Schrank geholt hatte, lag eingewühlt zwischen Kissen und Decke.
    »Ach ja. Wenn du mit Feli sprichst, erinnere sie bitte daran, dass sie noch meine Moonboots hat. Über Weihnachten soll es schneien«, sagte Tessa und zog
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