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Die Brückenbauer: Roman (German Edition)

Die Brückenbauer: Roman (German Edition)

Titel: Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
Autoren: Jan Guillou
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dem Weg über den Hof zu einem Schuppen waren, der seit anderthalb Jahren leer stand. Er hatte als Reservelager für Hanf gedient.
    Als er sich erkundigte, was los sei und warum die Männer große Feuerwehrbeile auf den Schultern trugen, erhielt er nur ausweichende Antworten von wegen eines »Schabernacks dieser Bengel«, den man unverzüglich in Ordnung bringen wollte. Das weckte seine Neugier. Er ging mit den anderen zu dem Schuppen und öffnete selbst die verzogenen Torflügel.
    Der Anblick, der sich ihm bot, versetzte ihn anfänglich derart in Erstaunen, dass er mit offenem Mund dastand. In
dem Schuppen stand ein mehr als halb fertiges Boot. Kein Ruderboot und keine Segeljolle, sondern das Modell eines Wikingerschiffes.
    »Meine Güte«, murmelte er leise, als ihm endlich aufging, was er dort sah. »Das muss das Gokstadschiff sein!«
    Ungeduldig riss er einem der Arbeiter den Zollstock aus der Tasche und begann, das Boot zu vermessen. Es war, nach der neuen Maßeinheit, die erst vor Kurzem in Norwegen und Schweden eingeführt worden war, 4,6 Meter lang und mittschiffs 1,02 Meter breit. Das konnte hinkommen.
    Er wollte die Sache sofort kontrollieren und eilte über den Hofplatz zum Hauptgebäude, dann überlegte er es sich anders und ging noch einmal zurück.
    »Was habt ihr eigentlich mit den Äxten vor, Männer?«, fragte er.
    »Der Vormann hat uns angewiesen, den Dreck zu zerhacken und aufzuräumen«, antwortete der Älteste von ihnen verunsichert. Der Feuereifer des Eigentümersohnes war schließlich nicht zu übersehen.
    »Fasst da drinnen um Gottes willen nichts an!«, befahl er. »Lasst alles, wie es ist, mit Werkzeug und allem. Und was meint ihr eigentlich mit dem ›Schabernack dieser Bengel‹?«
    Die Antwort erstaunte ihn außerordentlich, das konnte doch nicht sein. Oder hatten die drei neuen Lehrlinge, die kaum älter als elf Jahre waren, tatsächlich das hier gebaut? Und überhaupt, wo waren die Jungen jetzt?
    Die verzagte, gemurmelte Antwort ließ Böses ahnen. Vormann Andresen habe die drei kleinen Diebe verprügelt und ihnen fristlos gekündigt. Der zweite Vormann, ihr
Onkel, hatte sie daraufhin zum Dampfschiff gebracht und sie nach Hause geschickt.
    Wieso sie Diebe seien, hatte Christian Cambell Andersen wissen wollen.
    Sie hätten Holz und Sägen von der benachbarten Holzhandlung gestohlen, zwar nur von dem Haufen Abfallholz, aber Diebstahl sei es trotzdem. Das übrige Werkzeug hätten sie in der Reparaturwerkstatt der Seilerei mitgehen lassen.
    Diese Erklärung quittierte er mit einem resignierten Kopfnicken. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt auf größere Diskussionen einzulassen. Er wiederholte einfach nur seine Anweisung, dass im Schuppen nur ja nichts angefasst werden dürfe. Das gelte vor allem für das »gestohlene« Werkzeug und das Material. Dann eilte er in sein Büro und begann sein Regal mit den Büchern über die Wikinger zu durchsuchen.
    Wie etliche seiner Zeitgenossen begeisterte sich Christian Cambell Andersen für die Wikinger. Die Frithjofssaga konnte er auswendig, und die Ausgrabung des ersten gut erhaltenen Wikingerschiffes bei Gokstad hatte er seit seinem einundzwanzigsten Geburtstag genauestens verfolgt.
    Schließlich fand er, was er suchte, das Buch, in dem die genauen Maße des Gokstadschiffes standen: 23,3 Meter lang und größte Breite mittschiffs 5,2 Meter, wenn man von Fuß und Zoll umrechnete. Er schrieb die Zahlen auf ein Blatt Papier und rechnete rasch. Es stimmte bis auf den Zentimeter. Die Jungen hatten ihr Modell genau im Maßstab 1:5 gebaut.
    Er ließ sich auf seinen englischen Bürostuhl sinken und versuchte, sich einen Reim auf das Ganze zu machen, aber
in seinem Kopf drehten sich die Gedanken im Kreis. Er musste sich die Arbeit der Jungen eingehender ansehen! Energisch erhob er sich und ging zügig zurück zum Schuppen auf der anderen Seite des Innenhofs. Er öffnete beide Torflügel, um Licht in den Schuppen zu lassen.
    Die Klinkerbeplankung war perfekt, was in Anbetracht der kräftig geschwungenen Linien, die im Vorder-und Achtersteven zusammenliefen und mittschiffs am breitesten waren, erstaunte. Außerdem ragten Vorder-und Achtersteven steil auf. Dass es ein paar kleinen Jungen ohne richtiges Werkzeug gelungen war, diese kühnen und eleganten Linien aus einem Holz zu erschaffen, das sie aus dem Abfallhaufen der Holzhandlung gefischt hatten, war das reinste Wunder.
    Er strich mit der Hand über die Beplankung. Keine Unebenheit, alles war perfekt
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