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Die Braut des Nil

Die Braut des Nil

Titel: Die Braut des Nil
Autoren: Christian Jacq
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befahl er.
    Kamose traute
seinen Augen nicht. Er sah einen Mann und eine Frau, die auf den Feldern
arbeiteten, er mähte, sie säte. Auf einer benachbarten Szene pflügte er, seine
Frau ging hinter ihm her.
    »Aber… das
sind meine Eltern!«
    »Ja und
nein«, antwortete der Alte. »Es ist eine Darstellung der himmlischen Paradiese.
Sieh dir den höchsten Punkt der Wand an.«
    Kamose
erkannte den Sonnengott in seiner Barke.
    »Das göttliche
Licht badet das gesamte Universum, Kamose. Die Ewigkeit ist voller herrlicher
Felder, auf denen die Gerechten weiter arbeiten, um jene zu ernähren, die auf
der Erde geblieben sind und nach Weisheit streben.«
    Kamose war
zutiefst verstört. Er blieb davon überzeugt, dass wirklich seine Eltern auf der
Wand dieser Ruhestätte der Ewigkeit dargestellt seien.
    »Meditiere an
diesem Ort«, empfahl der Alte. »Du kennst genügend Hieroglyphen, um die Texte
zu entziffern, die die Szenen erklären. Wisse, dass der Skarabäus das Symbol
der Verwandlung, der Phönix das der Wiedergeburt, die Schwalbe das der
Wiederauferstehung ist. Wenn du dich bereit fühlst, so steig wieder ans
Tageslicht empor.«
    Kamose blieb
den ganzen Tag im Grab. Er entzifferte alle Texte und prägte sich die Szenen
ein. Er hatte das Gefühl, sich im Inneren eines Papyrus zu befinden und selbst
zu einer von einem Schreiber gezeichneten Hieroglyphe zu werden.
    Als er ans
Licht zurückkam, hüllte der Sonnenuntergang das thebanische Westgebirge in
ockerfarbenes Licht.
    Der Alte saß
wie unerschütterlich auf einem Erdhügel und betrachtete den Sonnenuntergang.
    »Da bin ich,
Meister. Was habt Ihr noch für eine Überraschung für mich?«
    »Wir kehren
in den Tempel zurück, Kamose. Du musst jetzt schlafen.«
    »Ich habe
keine Lust.«
    »Und doch
musst du es. Morgen findet die Hauptprüfung statt.«

 
    21
     
     
     
    Es waren
insgesamt fünfzig Kandidaten, die aus allen Provinzen Ägyptens kamen. Sie
bildeten die künftige geistige Elite des Landes. Wer die Prüfung der Schule von
Karnak bestand, erhielt Zugang zu den höchsten Verwaltungsaufgaben. Die meisten
unter ihnen würden jedoch beim ersten Versuch scheitern.
    Mit Ausnahme
von Kamose waren alle von begüterten Eltern, Adligen oder Provinzfürsten
empfohlen worden. Manche dachten, auf diese Weise einen Vorteil zu haben.
    Sie täuschten
sich.
    Unter den
Prüfern waren ebenso viele Kinder von Adligen wie aus einfachen Familien. Die
soziale Herkunft der Kandidaten hatte keine große Bedeutung. Was in den Augen
der Prüfer zählte, waren die Kenntnisse der Kandidaten und ihre Fähigkeit, in
Zusammenhängen zu denken.
    Die Prüfungen
würden eine ganze Woche dauern. Sie würden die Beherrschung der
Hieroglyphensprache zum Inhalt haben, die verschiedenen Formen der Schrift,
Geometrie und Astronomie. Und die Kandidaten würden unterschiedliche Formen von
Texten – religiöse, wissenschaftliche und Verwaltungstexte – abfassen müssen.
    Danach würde
ein Gespräch mit Schreibern stattfinden, die zu Fachleuten in den verschiedenen
Disziplinen geworden waren.
    Während der
gesamten Dauer der schriftlichen Prüfungen schwieg Kamose. Er sprach mit
niemandem, hielt sich abseits des Getuschels, hörte auf keinen Rat und schenkte
nicht der geringsten Indiskretion Gehör. Er blieb in sich verschlossen und
versuchte, ununterbrochen konzentriert zu bleiben. Selbst im Schlaf hielt er
seinen Geist weiter wach.
    Die Themen
schienen ihm äußerst schwierig. Nur die Geometrie stellte wegen seiner bei den
Handwerkern erworbenen Erfahrung kein unüberwindliches Problem für ihn dar. Bei
allem anderen stellte er fest, wie kurz seine Ausbildung trotz aller Intensität
gewesen war.
    Wieder einmal
war Kamose also gezwungen, sich auf seine Intuition zu verlassen, um sein
fehlendes Wissen auszugleichen. Er war sich bewusst, dass er sich ins
Unbekannte stürzte und unweigerlich schwere Fehler begehen würde.
    Während der
mündlichen Prüfungen hätten seine Nerven mehrere Male beinahe nicht
standgehalten. Die Prüfer waren kleinlich und mürrisch. Kamose fand die
Geisteshaltung mancher unter ihnen erbärmlich. Sie versuchten nicht, den
Kandidaten zu verstehen, seine tieferen Eigenschaften zu beurteilen, sondern
nur, ihn in Schwierigkeiten zu bringen.
    Erschöpft
kehrte er in das Büro des Alten zurück, der noch immer damit beschäftigt war,
in Spalten Hieroglyphen zu schreiben.
    Der Meister
tat, als bemerke er Kamoses Anwesenheit nicht.
    Kamose
schätzte das Ausruhen und die Stille.
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