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Die Bourne-Identität

Titel: Die Bourne-Identität
Autoren: Robert Ludlum
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ihnen?« fragte der Bruder.
    »Gerade noch waren sie grau - grau wie Stahlkabel. Jetzt sind sie blau!«
    »Die Sonne ist heller geworden«, sagte der Skipper und zuckte die Schultern. »Oder du hast dich getäuscht. Aber das ist egal, im Grab gibt's ohnehin keine Farben.«
    Das gleichmäßige Tuckern der Fischerboote mischte sich in das unablässige Kreischen der Möwen; gemeinsam bildeten sie die typischen Geräusche an der Küste. Es war später Nachmittag, die Sonne stand wie ein Feuerball im Westen, die Luft war still, feucht und heiß. Über den Piers am Hafen verlief eine Straße mit Kopfsteinpflaster, an ein paar heruntergekommenen weißen Häusern vorbei, zwischen denen Unkraut aus ausgetrockneter Erde in die Höhe schoß. Das hölzerne Gitterwerk der Veranden war beschädigt und die zerbröckelnden Stuckdecken wurden von hastig eingefügten Stützen getragen. Die Villen hatten vor ein paar Jahrzehnten bessere Tage gesehen, damals, als die Bewohner irrtümlich glaubten, Ile de Port Noir könnte ein weiteres Eldorado des Mittelmeeres werden. Doch das wurde es nie.
    Von allen Häusern führten schmale Wege zur Straße, aber der Pfad des letzten Hauses in der Reihe wurde offensichtlich häufiger begangen als die anderen. Dort lebte ein Engländer, der vor acht Jahren nach Port Noir gekommen war, unter Umständen, die niemand begriff oder begreifen wollte; er war Arzt, und das Dorf brauchte einen, Nadel und Skalpell waren ebenso Werkzeuge, die dem Lebensunterhalt dienten, wie Instrumente, an denen man sich verletzen konnte. Wenn le docteur seinen guten Tag hatte, waren seine Nähte gar nicht übel. Wenn allerdings der Gestank von Wein oder Whisky zu penetrant war, ging man als Patient eben ein Risiko ein.
    Aber besser er als gar kein Arzt.
    Heute jedoch hatte noch niemand den Pfad benutzt. Es war Sonntag, und jeder wußte, daß der Doktor sich jeden Samstagabend im Dorf betrank und die Nacht dann mit irgendeiner Hure verbrachte. Natürlich war auch bekannt, daß sich an den letzten paar Samstagen die Gewohnheit des Arztes geändert hatte; er hatte sich nicht mehr im Dorf blicken lassen. Aber so groß war die Änderung nicht; Flaschen mit Scotch wurden regelmäßig in sein Haus geschickt. Er blieb einfach daheim; das tat er, seit das Fischerboot aus La Ciotat den unbekannten Mann gebracht hatte, der dem Tod näher gewesen war als dem Leben.
    Dr. Geoffrey Washburn erwachte und zuckte zusammen, das Kinn gegen das Schlüsselbein gedrückt, so daß ihm der eigene Mundgeruch in die Nase strömte; das war nicht angenehm. Er rieb sich die Augen, orientierte sich und blickte zur offenen Schlafzimmertür. Hatte ihn wieder ein zusammenhangloser Monolog seines Patienten aus dem Schlaf gerissen? Nein, nebenan war Stille. Selbst die Möwen draußen waren ruhig. Es war der heilige Tag von Ile de Port Noir. Heute würden keine Fischerboote in den Hafen tuckern und die Vögel mit ihrem Fang locken.
    Washburn sah auf das leere Glas und die halbleere Flasche Whisky auf dem Tisch neben seinem Sessel. Man merkte den Fortschritt. An einem normalen Sonntag würde sie jetzt längst ausgetrunken sein und der Scotch den Schmerz der vergangenen Nacht ertränkt haben. Er lächelte und dachte an seine ältere Schwester in Coventry, die den Scotch mit ihrer monatlichen Zuwendung möglich machte. Bess war ein gutes Mädchen, und sie hätte ihm weiß Gott viel mehr schicken können, aber trotzdem war er ihr dankbar für die Unterstützung. Und eines Tages würde sie aufhören, ihm Geld zu überweisen, und dann würde er mit dem billigsten Wein seine Erinnerung betäuben, bis überhaupt kein Schmerz mehr da war.
    Er hatte sich schon lange mit diesem Leben abgefunden ... bis ein paar Fischer, die sich nicht zu erkennen geben wollten, vor drei Wochen und fünf Tagen den halbtoten Fremden an seine Tür geschleppt hatten. Aus ihrer Sicht war das reine Barmherzigkeit, sie hatten mit dem Mann nichts weiter zu tun. Gott würde verstehen, warum der Mann angeschossen worden war.
    Der Doktor stemmte seinen hageren Körper aus dem Sessel und trat schwankend ans Fenster, von wo aus er den Hafen überblicken konnte. Er zog die Gardinen zu, um das helle Sonnenlicht auszusperren, und spähte zwischen den Falten des Vorhangs hinaus, um zu sehen, was sich weiter unten auf der Straße tat, insbesondere, woher das Klappern kam. Es war ein Pferdewagen, eine Fischerfamilie auf Sonntagsausfahrt. Wo, zum Teufel, konnte man so etwas sonst noch erleben? Und dann
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