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Die Bourne-Identität

Titel: Die Bourne-Identität
Autoren: Robert Ludlum
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erinnerte er sich an die Kutschen und die gestriegelten Wallache, die sich in den Sommermonaten mit Touristen durch den Londoner Regent Park bewegten; er mußte bei dem Vergleich laut lachen. Aber sein Lachen dauerte nur kurz, denn es wurde rasch von einem Gedanken verdrängt, der ihm noch vor drei Wochen undenkbar gewesen wäre. Er hatte alle Hoffnung aufgegeben, England je wiederzusehen. Doch jetzt war es bereits durchaus möglich, daß sich das ändern würde -durch den Fremden.
    Wenn seine Prognose nicht falsch war, konnte es jeden Tag geschehen, jede Stunde, jede Minute. Die Wunden an den Beinen und auf der Brust waren tief und wären möglicherweise sogar tödlich gewesen, wenn die Kugeln nicht da geblieben wären, wo sie sich eingenistet hatten, vom salzigen Meerwasser gesäubert. Sie herauszuholen war bei weitem nicht so gefährlich, wie es hätte sein können, denn das Gewebe drum herum war aufgeweicht und ohne Infekt. Das eigentliche Problem war die Kopfwunde; nicht nur, weil die Kugel in den Schädel gedrungen war, sondern weil sie allem Anschein nach den Thalamus und das Ammonshorn des Gehirns verletzt hatte. Wäre das Projektil auch nur wenige Millimeter weiter links oder rechts eingedrungen, hätte das den sofortigen Tod bedeutet. So aber waren alle wichtigen Lebensfunktionen unversehrt geblieben, Washburn hatte seine Entscheidung getroffen. Er blieb sechsunddreißig Stunden trocken, aß so viel Stärke und trank so viel Wasser, wie nur menschenmöglich war. Dann wagte er sich an den heikelsten Eingriff, den er seit seiner Entlassung aus dem Macleans Hospital in London durchgeführt hatte. Millimeter für Millimeter wusch er mit einem Pinsel die Gewebepartien aus, spannte dann die Haut und nähte sie über der Kopfwunde zusammen. Dabei war er sich bewußt, daß der geringste Fehler, sei es nun mit dem Pinsel, der Nadel oder der Klammer, den Tod des Patienten verursachen würde.
    Er hatte aus den verschiedensten Gründen nicht gewollt, daß dieser Unbekannte starb, besonders aus einem nicht.
    Als nach dem Eingriff die Lebenszeichen konstant blieben, widmete sich Dr. Geoffrey Washburn wieder seiner chemischen und psychischen Lebensstütze, dem Alkohol. Er hatte sich vollaufen lassen und soff auch weiterhin, hatte aber vor dem absoluten Blackout haltgemacht. Er wußte die ganze Zeit genau, wo er war und was er tat. Das war ganz entschieden ein Fortschritt.
    Jeden Tag, jede Stunde, konnten die Augen des Fremden wieder klar werden und verständliche Worte über seine Lippen kommen.
    Jeden Augenblick vielleicht.
    Die Worte kamen zuerst. Sie schwebten in der Luft, als die frühe Morgenbrise, die von der See hereinwehte, das Zimmer abkühlte.
    »Wer ist da? Wer ist in diesem Zimmer?«
    Washburn setzte sich auf, schwang die Beine lautlos über den Bettrand und erhob sich langsam. Es war jetzt wichtig, den Patienten nicht zu erschrecken, kein plötzliches Geräusch zu erzeugen oder eine Bewegung, die den Patienten verängstigen könnte. Die nächsten paar Minuten würden ebenso delikat sein wie vorher der chirurgische Eingriff. Der Arzt in ihm war auf diesen Augenblick vorbereitet.
    »Ein Freund«, sagte er mit weicher Stimme.
    »Freund?«
    »Sie sprechen englisch. Das hatte ich angenommen. Amerikaner oder Kanadier, hatte ich vermutet. Die Technik Ihrer Zahnversorgung kommt nicht aus England oder Paris. Wie fühlen Sie sich?«
    »Ich weiß nicht genau.«
    »Das wird eine Weile dauern. Müssen Sie Ihren Darm erleichtern?«
    »Was?«
    »Ich habe gefragt, ob Sie kacken müssen, alter Junge. Dafür ist die Schüssel neben Ihnen. Die weiße, links von Ihnen. Wenn wir es rechtzeitig schaffen, natürlich.«
    »Tut mir leid.«
    »Nicht nötig. Eine ganz normale Funktion. Ich bin Arzt, Ihr Arzt. Ich heiße Geoffrey Washburn. Und Sie?«
    »Was?«
    »Ich habe Sie gefragt, wie Sie heißen.«
    Der Fremde bewegte den Kopf und starrte die weiße Wand an, auf der sich Strahlen des Morgenlichts abzeichneten. Dann wandte er sich wieder um, und seine blauen Augen blickten den Arzt an. »Ich weiß nicht.«
    »Oh, mein Gott!«
    »Ich habe es Ihnen immer wieder gesagt. Es dauert eine Weile. Je mehr Sie dagegen ankämpfen, desto schwerer machen Sie es sich, desto schlimmer wird es.«
    »Sie sind betrunken.«
    »Ja, im allgemeinen schon. Aber das tut hier nichts zur Sache. Nur wenn Sie mir zuhören, kann ich Ihnen Ratschläge geben.«
    »Ich habe zugehört.«
    »Nein, das tun Sie nicht; Sie wenden sich ab. Sie liegen in Ihrem Kokon da
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