Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Blutlinie

Die Blutlinie

Titel: Die Blutlinie
Autoren: Cody Mcfadyn
Vom Netzwerk:
nicht aufhören, diese Glock anzustarren.
    »Nehmen Sie sie. Jetzt sofort, und ich schreibe Sie tauglich für den aktiven Dienst, wenn es das ist, was Sie wollen.«
    Ich kann nicht antworten, und ich kann den Blick nicht von der Waffe lösen. Ein Teil von mir weiß, dass ich in Dr. Hillsteads Praxis sitze und er mir gegenüber, doch die Welt scheint auf zwei Dinge zusammengeschrumpft zu sein. Auf mich und die Pistole. Alle Geräusche sind gedämpft, und in meinem Kopf herrscht eine eigenartige, fremde Stille, nur durchbrochen durch das Hämmern meines Herzens. Ich kann hören, wie es hart und schnell schlägt.
    Ich fahre mir erneut mit der Zunge über die trockenen Lippen. Greif zu und nimm sie, sage ich zu mir. Es ist, wie er gesagt hat – du hast es zehntausend Mal getan. Diese Pistole ist eine Verlängerung deiner Hand. Sie zu ergreifen ist etwas Instinktives, wie Atmen oder Blinzeln.
    Sie liegt einfach dort, und meine Hände umklammern unverwandt und steif die Armlehnen meines Stuhls.
    »Na los. Nehmen Sie sie.« Seine Stimme ist hart geworden. Nicht brutal, sondern unnachgiebig.
    Es gelingt mir, eine Hand von der Armlehne zu lösen, und ich strecke sie unter Aufwendung all meiner Willenskraft aus. Sie weigert sich zu gehorchen, und ein Teil von mir, der ganz kleine Teil, der analytisch und ruhig bleibt, kann nicht glauben, was hier geschieht. Wie kann solch eine Handlung, die bei mir kaum mehr ist als ein Reflex, plötzlich zur schwersten Aufgabe überhaupt für mich werden?
    Ich merke, wie mir der Schweiß über die Stirn rinnt. Ich zittere am ganzen Leib, und mein Sichtfeld hat sich an den Rändern verdunkelt. Ich habe Mühe zu atmen, und ich spüre, wie in mir Panik aufsteigt, ein klaustrophobisches, eingeengtes, erstickendes Gefühl. Mein Arm bebt wie ein Baum in einem Hurrikan. Meine Muskeln verkrampfen und entkrampfen sich unablässig wie ein Sack voll lebender Schlangen. Meine Hand nähert sich der Pistole Zentimeter um Zentimeter, bis sie unmittelbar über der Waffe schwebt, und jetzt ist das Zittern gewaltig, schüttelt meinen gesamten Körper, und der Schweiß bricht mir aus allen Poren.
    Ich springe vom Stuhl auf, der nach hinten kippt, und schreie.
    Ich schreie und schlage mir mit den Fäusten gegen den Kopf, und dann spüre ich, wie ich anfange zu schluchzen, und ich weiß, dass er es geschafft hat. Er hat mich geöffnet, mich aufgebrochen und mir die Eingeweide herausgerissen. Die Tatsache, dass er es getan hat, um mir zu helfen, ist kein Trost für mich, überhaupt nicht, weil ich im Augenblick nur einen ungeheuren Schmerz spüre. Schmerz, nichts als Schmerz.
    Ich weiche von seinem Schreibtisch zurück, zur linken Wand, sinke dort zu Boden. Ich merke, dass ich dabei leise stöhne, eine Art Totenklage. Es ist ein grauenvolles Geräusch. Es schmerzt mich, dieses Geräusch zu hören; es hat mich schon immer geschmerzt. Es ist ein Geräusch, das ich schon viel zu oft gehört habe. Das Aufstöhnen eines Überlebenden, der erkannt hat, dass er als Einziger noch am Leben ist, während alles, was er liebt, nicht mehr existiert. Ich habe es von Müttern und Ehepartnern und Freunden gehört, habe es gehört, wenn sie Leichen identifiziert haben oder wenn ich ihnen die Todesnachricht überbrachte.
    Ich wundere mich, dass ich mich nicht schämen kann; es ist einfach kein Platz für Scham in mir. Der Schmerz füllt mich vollständig aus.
    Dr. Hillstead ist aufgestanden und zu mir gekommen. Er wird mich nicht halten, nicht einmal berühren – das wäre unklug für einen Therapeuten. Doch ich kann ihn spüren. Er ist ein kauerndes, verschwommenes Etwas vor mir, und mein Hass auf ihn ist in diesem Augenblick vollkommen.
    »Reden Sie mit mir, Smoky«, sagt er. »Erzählen Sie mir, was passiert ist.«
    Er spricht zu mir mit einer Stimme, die so aufrichtig freundlich ist, dass sie eine neue Woge der Qual in mir heraufbeschwört. Es gelingt mir zu reden, abgehackt, von zitternden Schluchzern unterbrochen.
    »Ich kann so nicht leben, nicht so ohne Matt, ohne Alexa, ohne Liebe, ohne Leben, alle tot, alle sind tot, tot und …«
    Mein Mund formt ein »O«. Ich kann es spüren. Ich blicke zur Decke hinauf, packe meine Haare, und es gelingt mir, zwei Büschel mit den Wurzeln auszureißen, bevor ich das Bewusstsein verliere.

KAPITEL 3
    Es scheint eigenartig, dass ein Dämon mit einer Stimme wie dieser zu reden vermag. Er ist beinahe drei Meter groß, hat Augen wie Glas und einen Kopf voller weinender,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher