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Die Blutlinie

Die Blutlinie

Titel: Die Blutlinie
Autoren: Cody Mcfadyn
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so weitergeht, dann werde ich explodieren.
    »Noch etwas in Ihrer Akte hat meine Aufmerksamkeit geweckt. Anmerkungen über Ihre Schießkunst.«
    Er blickt zu mir hoch, und ich fühle mich, als wäre er mir von hinten in den Rücken gefallen, und ich habe nicht die geringste Ahnung, warum. Irgendetwas rührt sich in mir, und ich merke, dass es Angst ist. Ich umklammere die Lehnen meines Stuhls, während er fortfährt.
    »In Ihrer Akte steht, dass Sie mit der Handfeuerwaffe wahrscheinlich zu den besten Schützen der Welt zählen. Stimmt das, Smoky?«
    Ich starre meinen Therapeuten an und spüre, wie in mir alles taub wird. Die Wut verebbt.
    Ich und die Pistolen. Alles, was er sagt, ist wahr. Ich kann eine Waffe nehmen und damit schießen, wie andere Leute ein Glas Wasser trinken oder Fahrrad fahren. Es ist instinktiv, und es war schon immer so. Es gibt keine Begründung dafür. Ich hatte keinen Vater, der eigentlich einen Sohn wollte und mir deswegen im Kindesalter beibrachte, wie man schießt. Im Gegenteil, Dad hasste Waffen. Ich konnte einfach schießen. Von Anfang an.
    Ich war acht Jahre alt, und mein Dad hatte einen Freund, der als Green Beret in Vietnam gewesen war. Er war ein Waffennarr. Er wohnte in einer heruntergekommenen Eigentumswohnung in einer heruntergekommenen Gegend im San Fernando Valley – was zu ihm passte, weil auch er selbst heruntergekommen war. Trotzdem erinnere ich mich bis heute an seine Augen. Scharf und jung. Glitzernd.
    Sein Name war Dave. Irgendwie gelang es ihm, meinen Vater zu einem Schießplatz in einer etwas anrüchigen Gegend im San Bernardino County mitzuschleppen, und mein Dad nahm mich mit – vielleicht in der Hoffnung, den Ausflug kurz zu halten. Dave brachte meinen Dad dazu, ein paar Magazine zu verschießen. Ich stand daneben und sah zu, mit Ohrenschützern, die zu groß waren für meinen kleinen Mädchenkopf. Ich beobachtete die beiden, wie sie die Waffen hielten, und war fasziniert. Hingerissen.
    »Darf ich auch mal?«, fragte ich.
    »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, Süße«, entgegnete mein Dad.
    »Ach, komm schon, Rick. Ich gebe ihr eine kleine Kaliber zweiundzwanzig. Lass sie doch ein paar Schuss abfeuern.«
    »Bitte, Daddy?« Ich blickte mit meinem flehendsten Blick zu meinem Vater auf, einem Blick, von dem ich sogar mit acht Jahren schon wusste, dass ich ihn damit rumkriegen konnte. Er schaute zu mir herab, und in seinem Gesicht spiegelten sich die widersprüchlichen Gefühle. Dann seufzte er.
    »Also gut. Aber nur ein paar Schuss.«
    Dave ging die Zweiundzwanzig holen, ein winzig kleines Ding, das in meine Hand passte, und sie organisierten einen Hocker für mich, auf dem ich stehen konnte. Dave lud die Waffe und drückte sie mir in die Hand. Dann trat er hinter mich, während mein Dad mich besorgt beobachtete.
    »Siehst du die Zielscheibe da hinten?« Ich nickte. »Als Erstes musst du entscheiden, wo du treffen möchtest. Nimm dir Zeit. Wenn du abdrückst, mach es langsam. Nicht zucken, oder du schießt daneben. Bist du so weit?«
    Ich nickte. In Wirklichkeit hatte ich ihm kaum zugehört. Ich hatte die Waffe in der Hand, und irgendetwas in mir klickte. Es fühlte sich gut an. Es passte. Ich blickte die Schießbahn hinunter auf die menschenförmige Zielscheibe, und sie schien überhaupt nicht weit weg zu sein. Sie wirkte sehr nah, erreichbar. Ich richtete die Waffe darauf, atmete einmal durch und drückte ab.
    Ich war verblüfft und aufgepeitscht vom Rucken der kleinen Pistole in meinen Kinderhänden.
    »Verdammt!«, hörte ich Dave jubeln.
    Ich blinzelte erneut in Richtung Zielscheibe und sah, dass mitten im Kopf ein winziges Loch erschienen war, genau da, wo ich es hatte haben wollen.
    »Vielleicht bist du ein Naturtalent junge Lady«, sagte Dave zu mir. »Versuch noch ein paar.«
    Die »noch ein paar« wurden zu einer eineinhalbstündigen Schießübung. Ich traf mehr als neunzig Prozent meiner Ziele, und als wir aufhörten, wusste ich, dass ich für den Rest meines Lebens schießen würde. Und dass ich gut darin war.
    Mein Dad unterstützte mein Hobby in den folgenden Jahren, trotz seiner Abneigung gegen Waffen. Wahrscheinlich begriff er, dass es ein Teil von mir war; etwas, wovon er mich nicht würde abhalten können.
    Die Wahrheit? Ich bin unheimlich gut. Ich behalte es für mich und gebe nicht öffentlich damit an. Doch wenn ich für mich bin? Ich bin eine Annie Oakley. Ich kann Kerzenflammen ausschießen und in die Luft geworfene Münzen
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