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Die Blutgraefin

Die Blutgraefin

Titel: Die Blutgraefin
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Seine Sinne, die
viel schärfer waren als die eines jeden gewöhnlichen Menschen, hätten ihn dennoch viel eher warnen müssen. Es war nahezu unmöglich,
sich an ihn heranzuschleichen - vor allem dort, mitten im Wald, wo
der frisch gefallene Schnee eine lautlose Annäherung verhinderte.
Dass Abu Dun ihm erst auf die Sprünge helfen musste, war ungewöhnlich und deshalb beunruhigend. Auch die Sinne des Nubiers
waren mittlerweile weit schärfer als die eines normalen Menschen,
doch seine Fähigkeiten reichten noch nicht an die Andrejs heran.
Andrej versuchte, diese Gedanken zu verscheuchen und sich mit
der Vermutung zu beruhigen, dass ihn der Anblick der auf so brutale
Weise verstümmelten Leichen abgelenkt hätte, aber im Grunde wusste er, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Und das nicht erst seit heute.
Es hatte begonnen, nachdem sie Wien verlassen hatten, und verschlimmerte sich zusehends, auch wenn sich Andrej bislang beharrlich geweigert hatte, es zur Kenntnis zu nehmen.
Andrej schüttelte auch diesen Gedanken ab und schloss für einen
Moment die Augen, um sich ganz auf das zu konzentrieren, was ihm
sein Gehör und sein Geruchssinn mitteilten. Abu Dun hatte Recht:
Im Schutz der verschneiten Büsche, nur wenige Schritte hinter dem
breiten Rücken des Nubiers, verbargen sich mindestens fünf Menschen, und weitere zwei auf der anderen Seite des halb erstarrten
Baches. Sie waren aufgeregt. Sie hatten Angst.
Abu Dun richtete sich wieder auf und sah sich demonstrativ nach
rechts und links um. »Wir können hier nichts mehr ausrichten«, sagte
er mit Nachdruck.
»Der Schnee scheint alle Spuren verwischt zu haben«, bestätigte
Andrej, während er ebenfalls aufstand und versuchte, den Waldrand
hinter Abu Dun unauffällig mit Blicken abzutasten. Auch wenn die
Anstrengungen der Männer dort, sich vollkommen lautlos zu verhalten, vergebens waren, so musste er ihnen doch zugestehen, dass sie
sich gut verborgen hatten: Obwohl seine Augen die jedes anderen
Menschen an Schärfe übertrafen, konnte er niemanden entdecken -
allenfalls einen Schatten, der möglicherweise nicht dort hingehörte,
wo er hinfiel, einen tief hängenden Ast, von dem der Schnee erst vor
einem Augenblick heruntergefallen sein konnte, einen einzelnen
Zweig, den eine unachtsame Bewegung geknickt hatte. Wohl niemandem außer Abu Dun und ihm wäre dies aufgefallen.
»Dann lass uns weiterreiten«, sagte er laut. »Bevor am Ende noch
jemand auf die Idee kommt, uns mit diesem Gemetzel in Verbindung
zu bringen.«
Die Worte galten weniger Abu Dun als vielmehr den Lauschenden
im Gebüsch, und sie zeigten die beabsichtigte Wirkung. Abu Dun
hatte sich noch nicht ganz umgedreht, als der Schnee am Waldrand
schon nahezu lautlos in einer glitzernd weißen Wolke auseinander
stob und erst drei, dann fünf und schließlich sechs hoch gewachsene,
in zerschlissene Felle und Lumpen gekleidete Gestalten ausspie.
Zugleich hörte Andrej auch hinter sich Geräusche: das Splittern von
Zweigen, die die Kälte so spröde und zerbrechlich wie Glas gemacht
hatte, dann das Platschen schwerer, schneller Schritte im Bach. Er
hatte sich getäuscht - es waren drei Männer, nicht zwei.
Seine Hand schloss sich fester um den Schwertgriff, aber er zog die
Waffe noch nicht, und auch der Nubier beließ es dabei, sich weiter
aufzurichten und die Schultern zu straffen. Sie standen neun Gegnern
gegenüber, die bei flüchtiger Betrachtung nicht weniger beeindruckend und Furcht erregend wirkten als der nubische Riese. Dieser
Eindruck kam durch ihr abgerissenes und wildes Aussehen zu Stande
- und durch die Ansammlung zwar primitiver, aber bedrohlicher
Waffen, die sie mit sich schleppten. Dennoch hätte Andrej die vielfache Übermacht nicht einmal dann gefürchtet, wenn Abu Dun und er
tatsächlich nur die gewöhnlichen Krieger gewesen wären, die zu sein
sie vorgaben.
Die Männer waren ausnahmslos groß und kräftig gewachsen, zeigten aber deutliche Spuren von Unterernährung und Mangel. Auch
ihre Kleider hatten schon bessere Zeiten gesehen und bestanden fast
nur noch aus Fetzen. Diese Männer waren keine Krieger. Keiner von
ihnen war ein ernst zu nehmender Gegner für Abu Dun und ihn.
Andrej bezweifelte, dass auch nur einer unter ihnen jemals einen
ernsthaften Kampf geführt hatte. Diese Männer spürten, dass sie Abu
Dun und ihm unterlegen waren, und das machte ihnen Angst. Andrej
blieb dennoch auf der Hut. Angst machte Menschen unberechenbar.
Sie konnte
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