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Die Blutgraefin

Die Blutgraefin

Titel: Die Blutgraefin
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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hätte, und war verschwunden.
Andrej versuchte, ihr mit Blicken zu folgen, aber das Tier flog direkt
in die Sonne. Tränen schossen ihm in die Augen, und er musste geblendet wegsehen.
»Unheimliches Vieh«, murmelte Abu Dun. »Seit wann jagen Eulen
tagsüber?« Auch er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und versuchte, der Eule nachzublicken, war aber vorausschauender gewesen
als Andrej und beschattete die Augen mit einer Hand.
Andrej blinzelte ein paar Mal, bis die grellen Farbblitze, die seinen
Blick trübten, wieder verblassten, und legte in einer unbewussten
Geste die rechte Hand auf den Schwertgriff, während er sich langsam
einmal im Kreis drehte und seinen Blick über das schreckliche Bild
schweifen ließ, das sich ihm darbot.
Über eine Strecke von gut zwanzig Schritten folgte die vor ihm liegende Lichtung dem Lauf eines schmalen Baches, an dessen Rändern
Eis und verharschter Schnee bizarre Formen bildeten und mit Raureif
überzogene Büsche Spalier standen. Das Bild wurde eingerahmt von
uralten knorrigen Bäumen, deren Äste sich unter der Last des frühzeitig gefallenen Schnees bogen, der das Land unter sich begrub.
Die noch vor kurzem friedlich daliegende Waldlichtung hatte sich
in ein Schlachtfeld verwandelt.
Es fiel Andrej schwer, die Anzahl der Toten zu benennen, die halb
oder auch ganz nackt, auf schreckliche Weise verstümmelt, mit abgehackten Gliedmaßen und Köpfen im frisch gefallenen Schnee lagen. Es mochten vier sein oder auch fünf, und Andrej wagte nicht zu
mutmaßen, welche Schrecken die unschuldig weiße Schneedecke
noch verbergen mochte.
Andrej überwand nur mit Mühe den Widerwillen, den der Anblick
der entstellten Körper in ihm wachrief, und ließ sich neben dem enthaupteten Mann in die Hocke sinken, an dem die Eule ihren Hunger
gestillt hatte. Es fiel ihm schwer, ihn zu berühren. Andrej hatte keine
Furcht vor dem Tod. Abu Dun und er verdienten sich seit mehr als
einem Menschenalter ihren Lebensunterhalt als Söldner, und es gab
kaum eine Spielart des Todes, die er noch nicht gesehen oder auch
von eigener Hand herbeigeführt hatte. Aber das hier schien noch etwas anderes zu sein. Jemand hatte diese Menschen umgebracht, aber
er hatte es nicht einfach dabei bewenden lassen, sie zu töten - diese
Menschen waren regelrecht abgeschlachtet worden.
»Wann?«, fragte Abu Dun leise. Seine Schritte knirschten auf dem
frisch gefallenen Schnee, als er sich Andrej näherte, und dieser Laut
verlieh seiner einsilbigen Frage etwas sonderbar Unheimliches.
Andrej drehte den Toten auf den Rücken, was ihn einige Mühe kostete, da er nur eine Hand benutzen konnte, denn die andere umschloss noch immer krampfhaft den Schwertgriff, als brauchte er
einen Halt, der ihn in der Wirklichkeit verankerte. Er verzog flüchtig
das Gesicht, als er erkennen konnte, was man dem Mann angetan
hatte. Und das - dessen war Andrej sich nahezu sicher - während er
noch am Leben gewesen war. Er musste sich zwingen, die Wunden
des Mannes mit Augen zu betrachten, die nur an Tatsachen interessiert waren.
»Gestern Abend«, sagte er. »Allerfrühestens am späten Nachmittag.
Und sie sind nicht hier getötet worden.«
Abu Dun antwortete nicht, was Andrej wunderte. Schließlich hatte
er ihm eine Frage gestellt. Auch wenn der Nubier es zuweilen fertig
brachte, einen ganzen Tag lang nicht ein einziges Wort von sich zu
geben, war er im Grunde doch ein furchtbar schwatzhafter Mensch.
Andrej sah fragend hoch und fuhr fast unmerklich zusammen, als er
des angespannten Ausdrucks auf Abu Duns Gesicht gewahr wurde.
Sein Gefährte stand in scheinbar entspannter Haltung da, leicht nach
vorn gebeugt, die rechte Hand lässig auf dem Griff des mehr als meterlangen Krummsäbels, der unter seinem schwarzen Mantel hervorragte. Aber Andrej wusste, dass diese Haltung täuschte. Der über
zwei Meter große, dunkelhäutige Mann war angespannt.
»Wie viele?«, fragte er leise.
»Vier«, antwortete Abu Dun. »Vielleicht fünf. Genau hinter mir.«
Er beugte sich vor, als gebe es auf der verstümmelten Brust des Toten etwas Interessantes zu entdecken. »Und hinter dir sind zwei. Auf
der anderen Seite des Bachs.«
Andrej verharrte in gebückter Stellung, nickte aber fast unmerklich
und lauschte gleichzeitig angespannt. Er war erschrocken, beunruhigt
und verärgert zugleich. In dem Moment, in dem Abu Dun ihn darauf
aufmerksam gemacht hatte, spürte er die Anwesenheit der heimlichen Beobachter ebenso deutlich wie der Nubier.
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