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Die Blume der Diener

Die Blume der Diener

Titel: Die Blume der Diener
Autoren: Delia Sherman
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Brombeersträuchern umwürgt. Nicht ein einziges Grasblatt oder Mooskissen durchbrach die unfruchtbare Erde zwischen dem Rand des Waldes und dem Fuß des Turmes, doch an seine Steine krallte sich dunkler Efeu und verbarg Tor und Fensterschächte.
    Dieser Turm war schwer zu finden, nicht nur weil er tief im Innern des Waldes von Hartwick – dem größten Wald von Albia – stand. Obwohl er aus Stein und Mörtel gefügt war, war er seltsam flüchtig. Der Pfad, der einmal zu ihm geführt hatte, führte ein zweites Mal möglicherweise nicht einmal mehr in seine Nähe. Nur wenige Männer waren verwegen genug, nach ihm zu suchen, doch noch weniger erreichten ihn und daher sagte man über diesen Turm, er könne sich nach eigenem Willen bewegen und verstecken; vielleicht war es auch nur der Geist eines Turms, den es in Wirklichkeit überhaupt nicht gab.
    Doch tatsächlich kämpfte sich von Zeit zu Zeit ein Mann entweder zufällig oder vom Schicksal getrieben durch den Wall aus knorrigen Bäumen, überquerte die unheimliche Lichtung und drückte den moderigen Efeu zur Seite. Wenn solch ein Mann den Turm betrat, mochte er ihn durchaus für einen Wohnort der Geister halten, denn das Erdgeschoss war ein Trümmerfeld aus zersplitterten Möbeln, verkohlten Wandbehängen, verkrusteten, dunklen Flecken und übereinander gehäuften Knochen. Die Wände waren mit Girlanden aus Spinnennetzen geschmückt und eine Fuchsfamilie hatte im Kamin ihren Bau errichtet. Sicherlich hatte seit den Tagen des Magiers John hier kein menschliches Wesen mehr gelebt und diese Tage waren bereits seit hundert Jahren vergangen.
    Wenn der Mutige jedoch die zerbröckelnden Steinstufen zum ersten Stockwerk hochstieg, stieß er auf einen Raum, der peinlich sauber und kahl war und offensichtlich als Schlafkammer und Küche diente. Das nächste Stockwerk barg ein Geheimnis: eine Kammer, die fest verschlossen und völlig leer war – mit Ausnahme gewisser merkwürdiger Luftzüge und wispernder Stimmen, die von Leid und Qual jenseits menschlicher Vorstellungskraft murmelten. Wenn der Besucher vor diesem zischenden Grauen weiter nach oben floh, erreichte er das höchste Zimmer des Turms.
    Wenn der Eindringling sich nun umschaute – vielleicht keuchte er und wischte sich den kalten Schweiß von den Augen –, sah er die Zelle eines Gelehrten, die Wände mit Büchern und Schriftrollen bedeckt, in der zwei lange Tische standen, auf denen Schmelztiegel, Destillierkolben, Globen und Phiolen standen; Buchständer trugen schwere, geheimnisvolle Bände. Neben dem Kamin würde der Mutige dann ein metallenes Horn hängen sehen, gekrümmt und glänzend wie eine Schlange, und über dem Kamin einen Wandteppich mit einem Einhorn darauf, das von lüsternen Dämonen zerrissen wurde. Der Steinboden unter den Füßen des Eindringlings war blank und zu stählernem Glanz poliert. In der Mitte des Zimmers stand ein großer, mit Schnitzwerk verzierter Stuhl wie ein Thron und daneben einen Gegenstand wie ein Gobelinrahmen: er war kindshoch und gehüllt in schillernde Seide. Winters wie sommers roch die Luft hier nach Schnee.
    Ein solcher Eindringling kam am letzten Tag des Oktobers, dem Abend vor Allerheiligen, zu der Lichtung; er wurde geführt von einer singenden Brise. Neugierig und verzaubert wischte er den verkrallten Efeu beiseite, verfluchte die Füchse und die Spinnen, stolperte die unebenen, ausgetretenen Stufen hoch, durchquerte die mönchhafte Schlafkammer und stahl sich unruhig durch das Geflüster des leeren Raumes. Er war ein Wolfskopf, der Anführer einer Räuberbande. Er hatte nach seinem Belieben geraubt, gemordet und geschändet und sowohl die ewige Verdammnis als auch die Schlinge des Henkers verlacht. Doch als der Gesetzlose auf den polierten Fliesen des obersten Zimmers stand und die Frau anstarrte, die ihren unsichtbaren Häscher nach ihm ausgesandt hatte, schwitzte er vor Angst.
    Margaret, die Zauberin des Steinturms, saß entspannt in dem hohen, geschnitzten Stuhl. Zu ihren Füßen lag eine Füchsin mit flammenfarbenem Fell und Onyxaugen. Der Räuber leckte sich die trockenen Lippen und starrte vor sich hin. Er wusste, dass diese Zauberin den Turm seit dem Tod ihres Meisters vor etwa dreißig Jahren mit Spukwinden bevölkert hatte. Magister Lentus war ein Schreckgespenst aus der Kindheit des Gesetzlosen; demnach musste die Zauberin etwa vierzig oder sogar fünfzig Jahre alt sein – eine wirklich alte Frau. Aber die Frau auf dem Stuhl sah nicht älter aus als
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