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Die Blume der Diener

Die Blume der Diener

Titel: Die Blume der Diener
Autoren: Delia Sherman
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wie eine Ordnung zu bringen.
    Nach dem Essen verließ ihn die Geduld. Eine unbestimmte Rastlosigkeit trieb ihn vor dem Feuer hin und her, dann die Treppe hinunter und durch den Schlosshof hinaus in die Gärten. Es war nicht das richtige Wetter für einen müßigen Spaziergang. Die lange Dürre war einem regnerischen Herbst gewichen; die Erde war kalt und durchnässt. Die meisten Vorräte des Landes waren während der Hitze des vergangenen Sommers verdorben oder verzehrt worden; also würde es im kommenden Winter weitere Entbehrungen und Hungersnöte geben. Lionel ging im nassen Nebel über den Rosenpfad und an der Mauer des Königinnengartens entlang, dann über die duftenden Wege des Kräutergartens und hinaus in den Nordgarten. Am Ende des Kieselpfades sah er den Eingang zum halb fertigen Labyrinth.
    Obwohl er den Irrgarten gut kannte und stolz darauf war, zwischen dem Pater noster und dem abschließenden Amen vom Tor bis zum Mittelpunkt zu finden, verirrte er sich diesmal bereits nach zwanzig Schritten. Es sollte recht einfach sein, den richtigen Weg wiederzufinden, sagte er sich, denn die Hecken waren erst kniehoch. Wenigstens sollte es ihm möglich sein, den Weg zum Eingang zu entdecken und dort einen weiteren Versuch zu wagen. Er kletterte auf eine neue Sitzbank und spähte durch die Trübnis nach einer vertrauten Statue oder einer Wegbiegung, an der er sich orientieren konnte, doch er entdeckte nur ein wahlloses Durcheinander von Hecken und ganz undeutlich den innersten braunen Kreis inmitten des grünen Labyrinths. Nebel lag über den fernen, kahlen Feldern und den knöchernen Kuhkadavern und die Flüche der verhungernden Bauern hingen geisterhaft über dem feuchten Gras.
    Rasch sprang Lionel von der Bank herunter. Es war schon schlimm genug, sich in seinem eigenen Brautgeschenk zu verirren; da brauchte es keine schrecklichen Ausblicke auf die wirkliche Welt mehr. Er konnte sich nur mit Gewalt aus seiner misslichen Lage befreien und durch die dicht beieinander gepflanzten Wacholderbüsche brechen. Früher hätte er das ohne Zögern getan; er hätte die jungen Zweige achtlos gebrochen und das Rätsel missachtet, das er sich selbst gestellt hatte. Robin hätte es genauso gemacht. Das Bild seines Freundes aus Jugendtagen erhob sich vor seinem inneren Auge: Robin, der sich lachend und mit gezücktem Schwert durch kniehohes Heidekraut schlug, während das Blut seines Pferdes rot auf seiner Rüstung leuchtete. Unter dem zurückgeschobenen Visier sah sein Gesicht jung und lebhaft aus; die Augen waren zugleich glänzend und seltsam leer. Der Mund klaffte inmitten des dunklen Bartes feucht und rot auf. »Für Lionel!«, rief er. »Für den heiligen Georg und für Lionel von Albia!«
    Was hätte Robin Wickham von Toulworth wohl gesagt, wenn Lionel von Albia seinen Geliebten einen Schritt hinter die poetischen Sinnbilder von König Beaubrace und dem Ritter Joyeau geführt hätte? Hätte er diese Liebe erwidert – Kuss für Kuss und Berührung für Berührung? Oder hätte er sich von seinem Liebhaber mit Abscheu abgewendet und wäre dem König ein genauso leidenschaftlicher Feind geworden, wie er früher sein Freund gewesen war? Als Lionel an jenem Allerheiligentag in seinem bräutlichen Irrgarten saß, war er sich Robins verächtlicher Zurückweisung so sicher, als hätten die Toten sie ihm verraten. Die Jungenliebe, die sie miteinander geteilt hatten, war trügerisch, zerbrechlich und unkörperlich wie ein Traum gewesen. Robins Tod erhielt sie so, als sei sie in Stein gemeißelt wie das wunderschöne Bild, das sein unvollendetes Mausoleum schmückte. Hör auf, Lionel. Robin sollte in Frieden ruhen.
    Der König seufzte. Nein, er wollte keine Gewalt anwenden. Auch konnte ihm seine Erfahrung nicht helfen, denn die auswendig gelernten Richtungen waren ohne einen Bezugspunkt wertlos. Erstreckte sich höfische Liebe auch auf Männer?, fragte er sich kurz. Träumte Beaubrace davon, mit Joyeau ins Bett zu gehen? Lionel schüttelte den Kopf und zwang seine abschweifenden Gedanken auf den rechten Pfad zurück. Was hatte William gesagt, als er das Labyrinth gezeichnet hatte? »Dieser Irrgarten ist wie das Herz einer Frau, denn das Innerste kann nur derjenige erreichen, der es nicht zu suchen scheint.«
    König Lionel schlang den Mantel enger um sich und bewegte sich vom Mittelpunkt des Labyrinths fort. Wenn ein Pfad sich verzweigte oder in eine Sackgasse führte, suchte Lionel den Mittelpunkt und ging in die entgegengesetzte
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