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Die Blume der Diener

Die Blume der Diener

Titel: Die Blume der Diener
Autoren: Delia Sherman
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Abscheu auf das schmutzige Pack, das auf ihrem polierten Fußboden herumkroch.
    »Er ist noch nicht ganz tot«, sagte sie zu dem zitternden Leutnant. »Wenn du ihm hilfst, wird er überleben und dich auch fürderhin anführen. Du kannst ihn aber auch töten. Wie dem auch sei, entferne ihn und dich. Der Anblick eurer beiden Gestalten ist eine Beleidigung für meine Augen.«
    Kriechend und schwitzend zerrte der zweite Dieb seinen Anführer an den Füßen zur Tür und warf ihn unsanft die Steinstufen hinunter. Eine duftende Brise strich durch den Raum und säuberte die Luft vom Gestank der Angst. In dem verwüsteten Zimmer im Erdgeschoss jagte die Sippschaft der Füchsin den Leutnant mit schrillem Gekläff aus dem Turm; dann kehrten die Tiere zurück und balgten sich lauthals um das Festessen, das der Gesetzlose ihnen hinterlassen hatte.
    Margaret zog den Schleier vom Spiegel und fuhr mit den Händen über die blanke Oberfläche. Der Spiegel schimmerte und füllte sich dann bis zum Rand mit dem Abbild der gelbhaarigen Gemahlin des toten Ritters; sie trug ein tintenschwarzes Trauergewand und ihr Haar war unter einer Haube und einem Schleier verborgen. Neben ihr stand ein großer Mann. Strohblondes Haar quoll unter seiner Kapuze hervor und bedeckte das Gesicht von den Brauen bis zum Kinn. In den Händen hielt er eine sich windende, knurrende Füchsin. Ein Feuer erblühte zu den Füßen des Paares und als die Frau den Kopf neigte, warf der Mann die Füchsin in die sonnenhellen Flammen.
    Mit tauben und zitternden Fingern zog Margaret den Schleier wieder über das Antlitz des Spiegels. Trotz Sturm und Zauberspruch und Mordgemetzel hatte sich nichts geändert. Margaret lief über den polierten Boden wie ein Tier im Käfig hin und her, kaute auf der Unterlippe und rang die Hände. Wie konnte jede Einzelheit der Prophezeiung bereits seit mehr als zwanzig Jahren genau gleich bleiben? Sie war so sicher gewesen, wie sie es aufgrund von Vernunft und Magie hatte sein können, dass der Mann mit der schwarzen Kapuze entweder der Ritter oder dessen Sohn war. Aber ihrer beider Tod hatte das Bild von Margarets drohendem Schicksal nicht ausgelöscht.
    Warum nicht? Alle magischen Vorkehrungen, die sie getroffen hatte, waren mit der Prophezeiung in Einklang gewesen: Sie hatte nicht selbst etwas mit den Morden zu tun und das Blut der Lady war nicht vergossen worden. Margaret hielt inne. Ah, es war ja doch vergossen worden; ein winziges, scharlachrotes Rinnsal war von der Spitze des Schwertes geflossen, mit dem der Anführer der Gesetzlosen die Lady gezwungen hatte, den Kopf zu heben und ihn anzusehen.
    »Mögen die Succubi ihre Mannheit verdorren lassen und mögen ihre wollüstigen Seelen in ewigen Qualen brennen!« Die Füchsin, die immer hinter Margaret hergelaufen war, bellte zustimmend. Einen Augenblick lang sann Margaret über eine passende Strafe nach, dann begab sie sich zum Kamin, nahm das metallene Horn vom Haken und blies darauf drei klare Töne. Ein schwacher Wind fegte aus der Kammer unter ihr die Stufen hoch und wand sich wie eine Katze um sie; er schnurrte sogar ein wenig, als er ihr in Haar und Röcke fuhr.
    »Geh«, flüsterte sie ihm zu. »Bemächtige dich ihrer Waffen und richte deren Klingen gegen ihre eigenen Kehlen. Wenn alle getötet sind, überlasse ihre schändlichen Körper dem Ungeziefer zum Festmahl. Mit ihren Seelen hingegen magst du dich vergnügen.« Dann ließ sie ihn los. Mit einem freudigen Pfeifen wischte der Wind durch einen Fensterschlitz und war fort.
    Für den Rest des Tages und bis tief in den nächsten hinein zog Margaret unzählige Bücher und Schriftrollen aus den hohen Regalen, trug sie zu einem der Pulte und las nach, was darin über Prophezeiungen verzeichnet war – über ihre Erschaffung, ihre Brechung, ihre Anwendung und Auslegung. Sie las, was Brevius über die Geheimnisse geschrieben hatte, die die Bauchspeicheldrüse eines jungfräulichen Schafs offenbarte, und was Lapsarius über den sonderbaren Ritus wusste, durch den Voltar dem ihm geweissagten Tod entgehen wollte, der durch die Mordtat eines ungeborenen Kindes eintreten sollte. Als sie zum Ende eines jeden Buches oder Manuskripts kam, schlug sie es zu oder rollte es säuberlich zusammen und stellte es zurück an seinen Platz, sodass kein Anzeichen von Verwirrung ihren Ritus störte.
    Wie das Herbeirufen eines Dämons, so ist auch das Auslegen einer Prophezeiung von einem Ritual abhängig – von einer bestimmten Anzahl von Handlungen,
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