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Die Bischöfin von Rom

Die Bischöfin von Rom

Titel: Die Bischöfin von Rom
Autoren: Manfred Böckel
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tierische und menschliche Leben geeignet waren – was zum Beispiel dann wichtig sein konnte, wenn jemand eine Schafhürde oder ein neues Haus an einer bislang nicht genutzten Stelle errichten wollte.
    Ab ihrem dreizehnten Lebensjahr vermochte Branwyn selbst zu muten, und noch eine weitere Fähigkeit bildete sich in der Zeit, als sie ihre ersten Monatsblutungen erfuhr, bei ihr aus. Unter der Obhut der drei weisen Frauen entwickelte sich ihr seherisches Talent, das offenbar von Geburt an in ihr angelegt war, und nachdem Branwyn ihre ersten Schauungen erlebt hatte, pflegte die alte Penarddun oftmals zu sagen: »Ich glaube, diese sehr seltene Gabe wurde dir vererbt. Wahrscheinlich hat es in der Sippe, von der du abstammst, früher schon Ovaten gegeben. In den ehrwürdigen Überlieferungen, die sich auf den Norden der Lleyn-Halbinsel beziehen, heißt es ja auch, es hätten seit vielen Jahrhunderten stets Seherinnen und Seher im Schatten des Yr Fifi gewirkt …«
    Freilich waren die Visionen Branwyns in jenem Abschnitt ihres Lebens, da sie allmählich zur jungen Frau heranreifte, nicht spektakulär. Im Gegensatz zu anderen Ovaten, von denen in den Bardengesängen die Rede war und deren Kraft ausgereicht hatte, weit in die Zukunft zu blicken, um dort große Ereignisse zu erschauen, konnte Branwyn die Schleier zumeist nur einen Spalt lüften. Aber auch das brachte Nutzen für die Dorfgemeinschaft; so etwa, wenn sie Tage zuvor das Auftauchen von Fischschwärmen vorhersagte oder vor Stürmen warnte, die unversehens über das Eiland hinwegtoben würden. Und einmal, Branwyn stand damals in ihrem siebzehnten Lebensjahr, sah sie während ihrer Meditationen an der Heiligen Quelle dreimal hintereinander ein Schiff mit roten Segeln und dunkelhäutigen Seeleuten weit draußen auf dem Meer – tatsächlich waren knapp eine Woche später iberische Händler auf einem derartigen Segelschiff nach Aberdaron gekommen: Männer in fremdartigen Kleidern und mit tiefbraunen Augen, wie man sie schon seit mehreren Menschenaltern nicht mehr in Gwynedd hatte begrüßen können.
    Manchmal auch – vor allem dann, wenn Penarddun sich einmal mehr in den uralten Sagen des Landes verlor – glaubte Branwyn, unversehens und wie in Trance zurück durch die Zeit zu gleiten: weit hinaus über ihre eigene frühe Kindheit und Geburt, die ihr freilich nie greifbarer als im Wachzustand wurden. Und bei solchen Gelegenheiten geschah es zuweilen, daß die von der Alten beschworenen Bilder lebendig zu werden schienen. Gerade während der letzten Jahre war dies häufiger geschehen, und die junge Frau hatte in solchen Augenblicken das Gefühl, sich mitten unter den Menschen aus grauer Vorzeit zu befinden. Es war fast so, als könnte sie deren Körper tatsächlich berühren; sie hörte ihre Stimmen und nahm zuweilen sogar die Gerüche wahr, die von ihnen ausgingen. Aber stets hielt das Empfinden, in eine andere Welt eingetaucht zu sein, nur ein paar Atemzüge lang an, dann wichen die verwirrenden Visionen wieder. Nachher fühlte Branwyn sich jedes Mal erschöpft; das flüchtige Abtauchen in vergangene Jahrhunderte kostete sie sehr viel Kraft, während ihre Visionen von künftigen Dingen, die bereits nahe bevorstanden, sie kaum ermüdeten.
    Natürlich hatte sie mit den drei älteren Frauen darüber gesprochen, und die damals schon gebrechliche Penarddun hatte ihr erklärt, daß Raum und Zeit nach druidischer Lehre durchaus in verschiedenen Richtungen durchwandert werden könnten. Denn die jenseitigen Pfade von Annwn, auf denen der Geist der Ovaten sich bewege, seien mit den diesseitigen nicht zu vergleichen; vielmehr würden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Anderswelt einen Knoten bilden, der in sich alle drei Ebenen der Zeit in enger Verschlingung berge.
    Sehr große Weisheit hatte in den Worten der Greisin gelegen: entrückte Erkenntnis, welche die Grenzen des irdischen Begreifens beinahe schon sprengte. Und in der Tat war Penarddun wenige Monate nach diesem Gespräch verstorben. Friedlich war sie in einer Neumondnacht entschlafen; still hatte ihr Geist den verbrauchten Körper verlassen, um auf dem Weg über Annwn in einem jungen Leib wiedergeboren zu werden. Branwyn, Kigva und Arawn hatten die sterbliche Hülle Penardduns zu ihrem Grab getragen; hoch oben auf der Ynys Vytrin hatte die Druidin ihre letzte Ruhestätte gefunden.
    Vierzehn Tage später dann, als wieder der Vollmond am Himmel stand, war Branwyn im Verlauf eines Rituals an der Heiligen
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