Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bischöfin von Rom

Die Bischöfin von Rom

Titel: Die Bischöfin von Rom
Autoren: Manfred Böckel
Vom Netzwerk:
Antlitz einer heranhetzenden Frau mit panisch geweiteten Augen: Branwyns Mutter. Gleichzeitig war rauhes Männergebrüll und das scharfe, schrille Klirren von Eisen gegen Eisen zu vernehmen. Im nächsten Moment roch Branwyn beißenden, stinkenden Qualm – unmittelbar darauf riß ihre Erinnerung, wie schon früheren Gelegenheiten, ab.
    Anderswo und offenbar in großer Entfernung von dem Ort, an dem das Schreckliche geschehen war, formten sich weitere Bilder aus, die sie aus ihrer frühen Kindheit bewahrt hatte. Zusammen mit ihrer Mutter hastete sie durch dichten Wald. Einmal brach ein Tier durch das Unterholz; sie erschrak, stolperte über eine moosbewachsene Wurzel und stürzte. Eine Hand riß sie hoch; erneut rannten sie, bis sie sich unter einem niedergebrochenen Baumstamm verkrochen. Und dort, in dieser engen Höhle aus vermodertem Laub und fauligem Holz, hatte Branwyns Mutter tief in der Nacht so seltsam zu röcheln begonnen.
    Branwyn wußte nicht, wie lange dieses herzzerreißende Geräusch sie verfolgt hatte; sie wußte nur, daß sie, ein hilfloses Kind, sich verzweifelt bemüht hatte, der Kranken zu helfen. Sie hatte der Fiebernden den Schweiß von der Stirn gewischt und ihr immer wieder ein paar Tropfen Flüssigkeit einzuflößen versucht: Tau, von den Farnwedeln draußen vor dem Versteck. Sie hatte die Röchelnde angefleht, nicht zu sterben – doch irgendwann war der schreckliche Morgen gekommen, an dem ihre Mutter mit weit aufgerissenen Augen dagelegen und nicht länger auf das Weinen und die verängstigten Rufe ihres Kindes reagiert hatte; zuletzt, weil der alptraumhafte Anblick unerträglich wurde, floh das kleine, verstörte Mädchen blindlings.
    Auch hier wieder versagte Branwyns Erinnerungsvermögen; sie konnte nur vermuten, daß sie geraume Zeit umhergeirrt sein mußte. Tagelang wahrscheinlich, bis plötzlich die junge Frau mit dem dunkelblonden Haar und dem runden, gutmütigen Gesicht bei ihr gewesen war: Kigva, die in den Urwäldern im Inneren der Lleyn-Halbinsel nach seltenen Heilpflanzen gesucht hatte und dabei auf das halbverhungerte, dreijährige Kind gestoßen war.
    Was weiter geschehen war, wußte Branwyn aus den Erzählungen ihrer Retterin. Zunächst dachte Kigva, das weinende Mädchen, das sie inmitten des unwegsamen Forstes am Ufer eines Baches aufgefunden hatte, müsse seiner Mutter entlaufen sein. Als es ihr jedoch trotz intensiver Suche nicht möglich war, irgendeinen anderen Menschen in der fraglichen Gegend zu entdecken, blieb ihr nichts anderes übrig, als das Kleinkind mit sich zu nehmen. Fast zwei Tage wanderten die Kräutersammlerin und ihr Schützling in völliger Einsamkeit durch die wilden Wälder nach Südwesten, bis sie endlich das Dorf Aberdaron nahe des äußersten Kaps der Halbinsel erreichten. Dort übernachteten sie unter dem Dach eines Verwandten von Kigva, eines Fischers, und am folgenden Morgen brachte dieser Mann die junge Frau und das Mädchen in seinem Curragh hinüber zur Ynys Vytrin, wo Kigva seit einigen Jahren der Großen Göttin diente.
    Kigva war zu jener Zeit die jüngste der drei Frauen, welche im Rundhaus unter der Eibe lebten und das uralte Quellheiligtum auf dem Eiland hüteten. Arawn, die damals erst in der Mitte ihres fünften Lebensjahrzehnts stand, sowie eine bereits ergraute Eingeweihte, die Penarddun gerufen wurde, bemühten sich, ihr alles beizubringen, was sie selbst wußten. Als Kigva an jenem Tag mit dem Findelkind zu ihnen zurückkehrte, beschlossen sie nach kurzer Beratung, die Kleine bei sich aufzunehmen und großzuziehen. Sie handelten damit im Einklang mit der barmherzigen Lehre Ceridwens, nach der jedes Leben, auch das scheinbar armseligste, Teil des Göttlichen war. Vor allem Kigva schenkte dem Mädchen, das sie aus der Wildnis gerettet hatte, ihre ganze Liebe, und bald kam der Tag, an dem Branwyn, wie sie jetzt genannt wurde, sie erstmals Mutter nannte.
    Etwa zur gleichen Zeit – ungefähr ein halbes Jahr nachdem Kigva ihren Schützling im Curragh auf das Eiland gebracht hatte – gelangte die Nachricht in die abgeschiedene Ansiedlung auf der Ynys Vytrin, daß an der Nordküste der Lleyn-Halbinsel ein Überfall stattgefunden haben mußte. Keltische Händler aus Gallien, die auf ihrem Segelschiff Eisenbarren, Steinsalz und Wein nach Gwynedd gebracht hatten und dafür Seehundfelle, Bernstein und Schafwolle eintauschen wollten, berichteten von niedergebrannten Dörfern im Norden und erzählten ferner, daß sie dort keinen einzigen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher