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Die Bibliothek des Monsieur Proust (German Edition)

Die Bibliothek des Monsieur Proust (German Edition)

Titel: Die Bibliothek des Monsieur Proust (German Edition)
Autoren: Anka Muhlstein
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großer Komponist, der ein so bescheidenes, zurückgezogenes Leben in Combray führt, daß keiner seiner Nachbarn und Bekannten ahnt, wie genial er ist. Er hat eine lesbische Tochter, die immer als Mlle Vinteuil bezeichnet wird.

Einleitung
    Schriftsteller mögen einer bewährten Tradition folgen oder dagegen rebellieren, zu den Klassikern zählen oder als Neuerer gelten, in einem Punkt aber sind sie fast alle gleich: kaum einer, der nicht auch begeistert läse. Proust war keine Ausnahme von dieser Regel; das Lesen war für ihn von Anfang an und sein Leben lang die erste und wichtigste Quelle der Freude und der Anregung. Von anderen Autoren unterscheidet er sich jedoch dadurch, daß die Literatur auch in seinen Werken eine ungeheuer wichtige Rolle spielt.
    Proust konnte anscheinend keine Romanfigur schaffen, ohne ihr ein Buch in die Hand zu drücken. Gut zweihundert Personen bewohnen die Welt, die er erfunden und mit etwa sechzig Schriftstellern als Leitsternen aufgehellt hat. Chateaubriand und Baudelaire gehören dazu, sie haben ihn inspiriert; andere, Mme de Sévigné, Racine, Saint-Simon und Balzac, bedeuten seinen Romangestalten viel. Außerdem war Proust mit den Werken seiner Lieblingsautoren so vertraut, daß er manchen Figuren daraus einen wichtigen Platz in seinem eigenen Buch einräumte. So spielt Racines Phèdre im Leben des Erzählers eine große Rolle, und Charlus wäre ohne Balzacs Vautrin nicht Charlus.
    Zum Verständnis eines Romans, der derart komplex ist wiedie Recherche , führen so viele Wege, wie er Leser hat. Ich habe mich entschieden, seinen Nährboden aufzulockern und dabei ganz unterschiedliche Themen ans Licht zu holen: Prousts literarische Vorlieben, seine Begeisterung für die Klassiker und die Finesse, mit der er seinen Figuren erstaunlich passende Zitate in den Mund legt.
    Prousts Freunde behaupteten, er habe alles gelesen und nichts vergessen. Ein Buch, das als Führer durch Prousts unglaubliche Bildung dienen könnte, liefe Gefahr, genauso lang zu werden wie die Recherche . Ich habe mir weniger vorgenommen; zuerst möchte ich mich mit den Büchern befassen, die ihn in seiner Kindheit zu einem leidenschaftlichen Leser machten und ihm einen Fluchtweg aus den engen Grenzen einer Kinderwelt zeigten; zweitens gehe ich den tiefen und trotzdem oft übersehenen Spuren nach, die Baudelaire und Ruskin in der Recherche hinterlassen haben. Drittens richte ich meine Aufmerksamkeit auf Prousts Umgang mit Racine und Balzac. Seine Lesart der Tragödien des einen und der Romane des anderen ist so persönlich und so eigenartig, daß wir vielleicht gelegentlich verblüfft sind, wenn uns die Personen oder Redewendungen, die wir aus deren Werken kennen, bei Proust in unerwarteten Kontexten wiederbegegnen.

V
Racine: eine zweite Sprache
    Unter all den Schriftstellern, von denen Proust zehrte, ist im Verlauf des Romans keiner so präsent wie Racine. Schon als Schuljunge hatte Proust eine Vorliebe für Racine. Im Literaturunterricht an französischen Schulen ist es üblich, darüber zu debattieren, welcher der beiden Giganten des französischen Dramas im siebzehnten Jahrhundert bedeutender ist, Corneille oder Racine. Ein Schulaufsatz Prousts ist erhalten geblieben, und obwohl er Corneille und seiner heroischen Weltsicht Achtung bezeugt, zieht er ihm doch eindeutig Racine vor, den Dichter der réalité farouche : »… in diesem Sinne Racine leidenschaftlich zu lieben bedeutet einfach, die tiefste, die zarteste, die schmerzlichste, die ehrlichste Intuition so vieler bezaubernder und gequälter Leben zu lieben, wie leidenschaftlich Corneille zu lieben bedeuten würde, in all ihrer vollen Schönheit, in ihrem unwandelbaren Stolz die höchste Verwirklichung eines Heldenideals zu lieben.« [ 1 ] Der Schuljunge bemühte sich um ein ausgewogenes Urteil, indem er Corneillegewisse Stärken zubilligte, aber der Romancier wird nicht einmal versuchen, seine Vorliebe zu verschleiern. Prousts Mangel an Interesse für Corneille ist offensichtlich: In der Recherche wird er nur selten erwähnt, während Racines ständige, emotional aufgeladene Präsenz unübersehbar ist, schon in der Kindheit des Erzählers und noch bei der Lösung seiner Liebesaffäre mit Albertine. Proust zitiert aus Racines Dramen sowohl, um ein komisches Beispiel für die homosexuelle Lesart literarischer Werke zu geben, wie auch zur tragischen Illustration der Verwüstungen, die verschmähte Liebe und Eifersucht anrichten.
    Proust betrachtet drei Stücke
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