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Die Bibliothek des Monsieur Proust (German Edition)

Die Bibliothek des Monsieur Proust (German Edition)

Titel: Die Bibliothek des Monsieur Proust (German Edition)
Autoren: Anka Muhlstein
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massakrieren lassen, um sicherzugehen, daß ihr Königreich nie von einem Juden regiert wird. Ohne ihr Wissen wurde ein Enkel [Joas] gerettet und im jüdischen Tempel aufgezogen. Athalie besucht den Tempel, bemerkt das Kind, erkennt es zwar nicht, verlangt aber, daß es ihr in ihren Palast folge. Der Junge läßt sich nicht von der Königin beeinflussen und weigert sich, den Tempel zu verlassen. Am Ende rebellieren die Juden gegen Athalie und töten sie.
    Um die Geschichte von der Verführung eines jungen Kellners durch Nissim Bernard mit den Zeilen aus Athalie zu verbinden, muß Proust allerhand transponieren. Der Kellner übernimmt die Rolle von Joas, dem jüdischen Kind, aber statt den Verlockungen seines Verführers zu widerstehen, so wie Joas der Königin Athalie Widerstand leistet, gibt er ihnen bereitwillig nach. Die Racineverse, die Proust zitiert, passen gut zur Szene in der Recherche , haben aber – im Gegensatz zu den Zitaten aus Esther – nichts mit ihrer ursprünglichen Bedeutung zu tun, eine Verdrehung, die die komische Wirkung deutlich erhöht.
 
    Tatsächlich hätten die vierzig Jahre, die Monsieur Nissim Bernard von dem jungen Burschen trennten, diesen vor einem so unfreundlichen Kontakt bewahren müssen. Aber wie schon Racine so weise in jenen gleichen Chören bemerkt:
 
    Mein Gott, wie muß die zarte Jugend,
    Von viel Gefahr bedroht, unsichre Wege gehn,
    Die Seele, die dich sucht und ringt nach deiner Tugend,
    So manches Hindernis bestehn!
 
    Der angehende Kellner mochte noch so sehr ›unheiligen Augen fern‹ in den Tempelhallen des Hotelpalastes von Balbec leben, er hatte den Rat des Joad nicht befolgt:
 
    Begründe nicht auf Gold und Reichtum deine Macht.
 
    Er hatte vielleicht darin für sich eine Rechtfertigung gesucht, daß er sich sagte: ›Von Sündern ist die Erde übersät.‹ Wie dem auch sei, und obwohl Monsieur Nissim Bernard nicht auf eine nur so kurze Wartezeit gehofft hatte, am ersten Tag schon war es geschehen:
 
    Und was es immer sei, Furcht oder Zärtlichkeit,
    Er fühlte, es tasteten die Finger ihm am Kleid.
 
    Schon am zweiten aber führte Monsieur Nissim Bernard den jungen Hotelbediensteten aus, und die ›ansteckende Nähe verderbte seine Unschuld‹. Von da an war das Leben des jungen Menschen verwandelt. Er mochte wohl noch Brot und Salz herbeibringen, wie der ihm vorgesetzte Ober es verlangte, sein ganzes Antlitz aber jubilierte nur noch:
 
    Brecht, was da blühn will, kränzet Stirn und Brust,
        Frönt jeder Erdenlust …
    Wie lang sein Leben währt, hat niemand je gewußt.
    Heut ist ein Tag, den gilt es auszukaufen …
        Der Ehren und der Ämter Flor
    Winkt feiler Folgsamkeit und ihrem blinden Werke.
        Wer, der der Unschuld Gram bemerke
        Und neige, Schwestern, ihr das Ohr? [ 4 ]
 
    Gegen alle Wahrscheinlichkeit liefert die majestätische, strenge Athalie einen komischen Kommentar zu der Verführung durch einen Lustgreis, die sich ein bisher in den Freuden des dritten Geschlechtes unerfahrener junger Mann gefallen läßt; dieses beinahe frevelhafte Spiel mit der Tragödie konnte Proust sich leisten, weil er ganz außergewöhnlich vertraut mit Racines Texten war. Eine fast symbiotische Beziehung zwischen den beiden genialen Dichtern erlaubte dem einen – Proust – die Sprache des anderen – des Dramatikers aus dem siebzehnten Jahrhundert – zu benutzen wie seine eigene und für Themen seiner Wahl einzusetzen. Eine ähnliche Fähigkeit schreibt der Erzähler in der Recherche seiner Mutter zu, die Mme de Sévigné zitieren kann und zitiert, statt ihren Sohn zur Rede zu stellen und ihm mit ihren eigenen Worten zu sagen, daß ihr seine Angewohnheiten mißfallen.
    Was Proust in bezug auf den Erzähler über Phèdre zu sagen hat, zeigt, daß die Verbindung noch über die Aneignung der Sprache hinausgeht. Die Tragödie und ihre Heldin Phèdre, die griechische Fürstin, haben einzigartige Bedeutung in der Recherche. Die erste Anspielung auf Phèdre findet sich in dem Vergleich zwischen ihr und dem Erzähler, als er noch ein Kind in Combray ist und beim Gedanken an den Abschied von seinem geliebten Weißdorn traurig wird: »… am Morgen des Aufbruchs hatte man mir, weil ich photographiert werden sollte, die Locken gewickelt, mir vorsichtig einen Hut darauf gesetzt, den ich noch nie getragen hatte, und einen Samtkittel angezogen; ich wurde überall gesucht, und schließlich fand mich meine Mutter in Tränen auf dem kleinen
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