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Die Bibliothek des Monsieur Proust (German Edition)

Die Bibliothek des Monsieur Proust (German Edition)

Titel: Die Bibliothek des Monsieur Proust (German Edition)
Autoren: Anka Muhlstein
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steilen Pfad neben Tansonville, wie ich gerade von dem Weißdorn Abschied nahm; mit beiden Armen drückte ich die stacheligen Zweige an mich, und wie eine Tragödien-Fürstin – ›die Last des eiteln Schmucks‹ beklagend und undankbar gegen ›die lästige Hand, die durch so vieler Knoten Schlingen mein Haar auf meiner Stirn zu ordnen sich bemüht‹ …« [ 5 ]
    Phèdre ist ein Leitmotiv des Erzählers, als er erwachsen wird. Sie ist verbunden mit seiner ersten Liebe Gilberte Swann, einer Freundin aus Kindertagen, mit der er regelmäßig in dem kleinen Park der Champs-Élysées spielt. Da Mme Swann eine bekannte Kurtisane war, möchten Marcels Eltern Swann nicht in seinem Haus besuchen, obwohl er ein alter Freund der Familie ist. Deshalb können die Kinder sich nur außerhalb des Hauses im Freien treffen, bis der Junge die Einwände seiner Eltern umgeht und es schafft, sich allein von Swann einladen zu lassen. Seine List besteht darin, daß er Swann erzählt, wie sehr er Racine und den berühmten – von Proust erfundenen – Schriftsteller Bergotte bewundert, der als ständiger Gast zum Inventar von Mme Swanns Salon gehört. Angetan und amüsiert von der Frühreife des Jungen, spricht Swann die begehrte Einladung aus. Tatsächlich weiß der Erzähler Phèdre auswendig,und seine Lektüre Bergottes, den er vor kurzem entdeckte, hat ihm die Augen geöffnet für Schönheiten in der Tragödie, die ihm zuvor entgangen waren. Dieser Sinn des Kindes für Literatur bewegt Swann, noch weiter zu gehen: Er verspricht, nicht nur den Erzähler Bergotte vorzustellen, sondern den berühmten Schriftsteller außerdem zu bitten, daß er dem Jungen sein kleines Buch über Racine leiht. Bergotte ist auch ein großer Freund meiner Tochter, sagt er dann noch. Der Erzähler empfindet »so lebhaft das Glück und die Unmöglichkeit für mich, ihr Freund zu sein, daß ich gleichzeitig von Verlangen und Verzweiflung erfüllt wurde.« [ 6 ] Er ist bereit, sich zu verlieben, und natürlich geschieht das auch.
    Sie ist diejenige, die dem Erzähler später Bergottes kleines Buch gibt. Von da an assoziiert er die Schönheit auf den Buchseiten mit seiner Liebe zu Gilberte. Ferien trennen die beiden. Um ihn zu trösten, verspricht ihm die Mutter, daß er die Berma, die von Proust erfundene, berühmte, von Swann und Bergotte hochgeschätzte Schauspielerin, als Phèdre sehen darf. Er fiebert dem Ereignis so sehr entgegen, erwartet so viel Freude, daß er, kaum verwunderlich, dann von der Aufführung enttäuscht ist. Erst Jahre später, als er die Berma noch einmal als Phèdre sieht, begreift er, wie sie mit der Intelligenz und Subtilität ihrer Kunst das Genie Racines zum Vorschein bringt, und erkennt, wie schwer es ist, die neuartige künstlerische Interpretation eines vertrauten Meisterwerks anzuerkennen: »Und deshalb müssen gerade die wahrhaft schönen Werke, wenn man ihnen ehrlich lauscht, uns am meisten enttäuschen, da es inunserer Sammlung von Vorstellungen keine gibt, die einem individuellen Eindruck entspricht.« [ 7 ] Die wichtige Regel der Ästhetik, die der Erzähler damit gerade entdeckt hat, stammt von Racine und, genauer, aus Phèdre . Und wieder zeigt Proust, daß man etwas über das eigene Ich erfährt, wenn man ein literarisches Werk so liest, wie es gelesen werden sollte. Die zum Bruch führende Krise in der Beziehung zwischen dem Erzähler und Albertine ist für Proust eine Gelegenheit, den Beweis für diese These anzutreten: In Die Flüchtige lesen wir, daß der Erzähler sich als Phèdre sieht.
    Nachdem er Albertine praktisch für sich beschlagnahmt hat, erkennt der Erzähler, daß ihre ständige Präsenz ihm eine Last ist, und er plant, mit ihr zu brechen. Aber ganz unerwartet ergreift sie die Initiative und verläßt ihn ohne Vorankündigung. Als langsam in ihn einsinkt, daß sie ihn wirklich verlassen hat, überwältigt den Erzähler das Gefühl, daß er diesen Schlag nicht überleben könne; zum erstenmal erkennt er, daß die Zeilen, die er so oft gelesen und sich immer wieder vorgesagt hat, die Gesetze festlegen, denen er seit je unterworfen war. Darum geht es in Phèdre , sagt er sich.
    Phèdre verzehrt sich in verbotener Leidenschaft für ihren Stiefsohn Hippolyt. Sie könnte eine Trennung von ihm hinnehmen, wenn sie diejenige wäre, die ihn verbannt hätte. Aber wie es dem Erzähler mit Albertine ergangen ist, trifft auch Hippolyt die Entscheidung, sie zu verlassen, was dazu führt, daß Phèdre, halb wahnsinnig,
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