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Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin
Autoren: Astrid Fritz
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hielt, und klatschte ihn dem Mädchen, in einem Anflug von Wagemut, mitten ins Gesicht.
    «Na warte!»
    Eh sie sich’s versah, hatte die andre ihr die Arme auf den Rücken gedreht und sie ein zweites Mal mit dem Gesicht in die Schüssel gezwungen. Jemand schüttete einen Schwall Wasser nach, überall drang dieses eisige Wasser ein, in Nase, Augen und Kehle. Eine grauenhafte Angst packte sie, sie wollte laut schreien, aber es ging nicht.
Luft, Luft,
brüllte es in ihr, und sie spuckte und würgte und keuchte und spuckte immer noch, als sie sich längst auf dem nassen Boden vor dem Waschtisch krümmte.
    «Das tust du nie wieder. Sonst schlag ich dich tot», zischte Rosina.
    Keines der Mädchen lachte mehr. Sophie half Theres auf die Beine und trocknete ihr Gesicht und Haare ab.
    «Deine Nase blutet», sagte sie plötzlich und zog das Handtuch weg. Es war voller hellroter Flecken. «Oje, das gibt Ärger.»
    Theres hielt ihren schmerzenden Kopf über die Schüssel und betrachtete die roten Tropfen, die kreisförmige Ornamente ins Waschwasser zeichneten. Sie konnte noch immer nicht sprechen. Als die Nase endlich zu bluten aufgehört hatte, streifte sie sich das durchnässte Nachthemd über den Kopf und kleidete sich an. Die anderen hatten sich bereits draußen auf dem Gang aufgereiht, auch Sophie.
    Mit zitternden Händen knöpfte Theres das schlichte braune Gewand zu, das an den Ärmeln bereits mehrfach geflickt war. Dann sah sie hinauf zu den beiden Fenstern, oben unter der Decke. Ein strahlend blauer Himmel war zwischen den Gitterstäben zu erkennen, und sie dachte an die Weite auf derRauhen Alb, an den unendlichen Himmel dort, an den Duft nach Wacholder und Wildblumen im Frühjahr.
    «Wo ist die Neue?», hörte sie vom Gang her eine tiefe Stimme, und im nächsten Augenblick schon stand ein Bär von Mann im Türrahmen. Theres erschrak bis ins Mark: Der Mann, der Kleidung nach ein Knecht, starrte sie aus einem einzigen Auge böse an. Anstelle des andern Auges klaffte eine dunkle Höhle.
    «Was ist das für eine Sauerei hier?»
    Theres blickte zu Boden. In einer Pfütze lag zusammengeknüllt ihr Nachthemd, neben dem blutbefleckten Handtuch. Das Wasser auf den Fliesen hatte sich hellrot verfärbt.
    «Das werd ich melden. Und jetzt raus zu den andern.»
    Eilig schlüpfte sie in ihre Pantoffeln und ging hinaus, um sich in die Schlange der wartenden Mädchen einzureihen. Neben ihnen hatten sich die Knaben aufgestellt, die über Theres zu tuscheln und zu grinsen begannen.
    «Verrat lieber nicht, was die Rosina mit dir gemacht hat», raunte Sophie ihr zu.
    Theres antwortete nicht. Ihr war bald alles gleichgültig.
    Wenig später betraten sie den weitläufigen Innenhof, dessen Längsseite von jener mächtigen Kirche begrenzt wurde, die sie am Vortag schon so beeindruckt und zugleich beunruhigt hatte. Jetzt läutete von einem der beiden himmelwärts ragenden Türme die Glocke zur Morgenpredigt. Mit gesenktem Kopf schlurfte sie in den viel zu großen Lederschuhen, die man ihr zugewiesen hatte, neben Sophie her. Sie bemerkte, dass die Pflastersteine in einem Muster gehalten waren: Einem Quadrat von vier hellen Steinen folgte eines aus dunkleren. Wenn sie es nun schaffen würde, bis zur Kirche immer nur die hellen Steine zu betreten, dann würde doch noch alles gut werden hier in der Vagantenkinderanstalt!
    Plötzlich prallte sie gegen den Rücken ihrer Vorgängerin, die samt den anderen Mädchen abrupt stehengeblieben war.
    «Pass doch auf, du Trampel!» Vor ihnen marschierte eine weitere Schar Kinder, ebenfalls in Zweierreihen und allesamt in dunkelblauen Kleidern mit hübschen weißen Spitzenkrägen, im Gleichschritt auf den Durchgang zum Kirchenvorplatz zu. Während die Vagantenkinder ihnen den Vortritt ließen, sah Theres zu ihrer Enttäuschung, dass ihre Schuhe halb auf den hellen, halb auf den dunklen Pflastersteinen zum Stehen gekommen waren.
    «Das sind die Waisen vom Hauptinstitut», hörte sie Sophie sagen, als sie hinaus auf den Kirchplatz hoch über Altdorf traten. «Die glauben, die wären was Bessres als wir.»
    Kühle Luft umfing sie im Kircheninnern. Noch großartiger als von außen zeigte sich Sankt Martin hier herinnen. Das Kirchenschiff, das auf mächtigen Pfeilern ruhte, war in blendendem Weiß gehalten, durchsetzt von den flammenden Farben der Deckengemälde, dem dunklen Holz des geschnitzten Chorgestühls, dem reichverzierten Orgelprospekt und dem Gold des Chorgitters. Die Pracht des Hochaltars war von hier
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