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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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arbeiten.
    Warum dies?
    Ich deute mir's so.
    Das dichterische Schreiben ist viel mehr Leben abgeben im Sinne von Wärme abgeben. Ist viel stärker mit vitalen Verlusten verbunden, deshalb dieses Bedürfnis nach Leben im Sinne von etwas zu mir nehmen, aufnehmen, konsumieren.
    Das Dichten ist Leben abgeben, und deshalb sträubt sich alles dagegen.
    Oder auch: Das Dichten ist etwas »Sündiges«, ist ein Sichvergreifen am Leben, ist verbunden mit der Möglichkeit des
Fehls, des Lebenverfehlens (zumindest) des endgültigen Sichtäuschens und des Schlags ins Leere. Ist Konfrontation mit der letztlichen Ungreifbarkeit, Unerreichbarkeit, Unhaltbarkeit des Lebens, deshalb stellt sich schon im Akt des Schreibens dieser Appetit auf Leben ein.
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    Diese Unterschlüpfe, diese argen Löcher. Man könnte fragen: Wie kommt es, daß ein Mann seines Alters (ein Mann von 40), ein Mann seiner Formation, seines Ansehens … es immer zuwege bringt, in dermaßen chaotischen Verhältnissen zu logieren, wenn er sich zurückzieht, in Klausur geht, um konzentriert zu arbeiten?
    Hier dieses Basement, dieses Souterrainloch ohne hygienische Vorrichtungen, mit Zimmern, die mit lumpigen Teppichen belegt sind, immerfeuchten Bakterienplantagen; die vor allem mit den ärgsten Betten möbliert sind, entweder vollkommen ausgelegenen, muldenförmigen oder aber harthügeligen Liegen, die schlaflose Nächte mit Angstschweiß und Alpträume spendieren; außerdem sind sie (und die zugehörigen Decken) in einem dermaßen verlausten Zustand, daß man nur mit Widerwillen einsteigt in diese Lazarus-Pfühle. Alles in allem Nachtasyl-Mobiliar mit Maxim-Gorki-Stimmung. Alles in allem heruntergekommenste und total unkommode Verhältnisse. Alles in allem ungünstige Lebens- und Arbeitsbedingungen. Jeder andere würde sich besser organisiert, würde die Sache vorher besichtigt (und sich aus dem Kopf geschlagen) oder umfunktioniert haben. Warum nehme ich immer diese Verhältnisse in Kauf, als wäre ich ein jugendlicher Streuner? Ist es mangelnde Fähigkeit, mit den praktischen Dingen des Lebens zurechtzukommen? Oder ist es Neigung?
    Ich lege mich gerne zu den schwärigen Dingen der Fremde ins Bett, ich begebe mich nicht ungern in diese niederen (un
geglätteten) Lagen. Ich mag das Unfertige, die Lage im Rohstofflichen, das Unausgeprägte (Chaotische), Grundmaterialhafte. Und dann auch die entsprechende Brüderlichkeit. Aber es ist mir bewußt, daß man's auch als Schwäche auslegen kann. Andererseits – das Loch ist Freiheit, während der Besitz und die ausgesuchte und etablierte Einrichtung bindet.
    Jedenfalls erstaunlich, diese meine stinkenden Löcher, die mich weiter gar nicht aufregen.
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    London kommt mir neuerdings in anderen Aspekten zu Bewußtsein: nämlich als eine Art Trümmerfeld, Trödelmarkt, Gracchenacker. Als hätte sich die Erde aufgetan und würde dauernd irgendwelche Behausungsbrocken aus sich und emporwälzen. Dasselbe wiederholt sich im kleinen Maß der Schaufenster, wo auch bloß eine Riesenmenge Waren gestapelt ist, von welcher man nicht recht weiß, wo das Angebot anfängt und der natürliche Schutt oder Abfall aufhört. Aber aus beiden Optiken, der kleinen wie der großen, ist natürlich im einzelnen überall herrlichste Pracht zu entdecken, Allüre, Stil, Kostbarkeit, nur eben im (Ur-)Schleim einer wuchernden »Acker«erde.
    Und insgesamt gilt auch noch, daß man hier (wie in einer dauernd wechselnden Wüste oder Meeresweite) nie weiß, wo man ist, immer in einer sich und mich bewegenden lebendigen grenzenlosen Menge und Vermengung ist … in einem wuchernden Einerlei.
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    Mit Canetti nach Lugano
    Wir sprachen über das Phänomen des Vorbilds für Künstler und Dichter und waren uns darin einig, daß Kunst insofern von Kunst kommt, als eine Art Stafettenübergabe zwi
schen Geistern stattfindet, eine Art zündende Funkenübertragung von verwandten Figuren, eine Art Vererbung wohl. In dieser Hinsicht ist das Phänomen des Vorbilds oder des Erbantretens sehr wichtig. Wo es fehlt, fehlt Entscheidendes.
    Ich sehe solche »Staffettenübergaben« bei Hölderlin und Trakl und das geht eigentlich noch bis zu Robert Walser. Dann wieder von Büchners Woyzeck zu Canetti. Er sagt, er habe nach dem nächtlichen Lesen dieses Dramas eine Art Rausch
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