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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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reden) – wenn man sich den einzelnen ansieht, dann wirkt das zugegebenermaßen verwirrend naiv und lächerlich. Und steht dennoch für eine Existenzfigur. Ein Leitbild.
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    Genau so verhielt es sich vermutlich mit jenen Leitbildern der Generation des jungen Picasso, mit dessen Période-bleue-Leitbildern: den Gauklern, Saltimbanques, fahrenden Leuten – den Asozialen, Verlorenen, Randfiguren – und den Zöglingen, einem weiteren Leitbild einer Epoche. Die Gaukler waren das Symbol für eine moderne Existenz, deren Protagonisten sich als Tänzer auf dem schmalen Seil verstanden, als Akrobaten, jederzeit vom Absturz bedroht, bodenlos, am Rande, rechtlos; als Kunstfigur. Das Artistische war die Antwort auf die Unbegreiflichkeit und Bedrohlichkeit des Daseins. Über allem ein blauer Raum der Heimatlosigkeit und Schwermut …
    Heimatlosigkeit und Schwermut sind ja auch in den Zöglingen, im Zöglingstypus (von Joyce, Musil, über Robert Walser, Kafka, Schlemmer, Otto Meyer-Amden, Döblin etc.) festzustellen, nur daß jener Typus eine vielleicht um Grade positivere Fassung desselben Grunderlebnisses ist. Der Mensch als Zögling des Lebens, als Kuros-Paraphrase, schaudernd an der Schwelle des Fremden, verhalten und keineswegs freibeweglich, so wie die archaischen Jünglinge noch in den Block eingebunden waren. Im Zögling (auch der Grand Meaulnes ist einer) ist zudem eine negative Anspielung auf den einstigen Entwicklungsromantypus zu erkennen, auf das klassische Menschenbild überhaupt, aber gerade im Vergleich dazu kann die neue Unfreiheit und Angst erst recht ermessen werden … In der Metaphysischen Malerei findet eine Vermengung mit der Schneiderpuppe, der Puppe überhaupt statt, über die vom grausigen Schicksal nach Willkür verfügt werden kann. Übrigens war im deutschen Expressionismus das Gauklermilieu auch maßgebend, aber einzig im Sinne der Unbürgerlichkeit, des Ekstatischen. Das sind ikonographische Topoi.
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    Mit Valentin Freundschaft schließen.
    Klar, daß er mich (und mit mir die Familiengeborgenheit) mehr vermißt als ich ihn. Daß ich für ihn wirklich ein Herr draußen geworden bin, ein Herr, der luxuriös (wie er sagt) lebt, in europäischen Verhältnissen, unabhängig, frei. Das gerade tut ihm weh: die Freiheit, die ich vorlebe, weil sie ihm immer dieses einschneidende Erlebnis der zerstörten Familie, auch des Ausgestoßenseins aus der Geborgenheit, vor Augen führt – zwanghaft. Und das Unglück der Mutter.
    Ich habe ihn gefühlsmäßig nicht verloren, er ist da und am alten Platz da. Aber ich demonstriere durch alle Abweichun
gen meines Gebarens und Lebensstils vom früheren Gebaren und Lebensstil eben ganz grob dieses Unglück der amputierten Familie.
    Deshalb meckert er dauernd an mir herum – Versuche, mich ins alte vertraute Bild zu passen. Mich zurückzuführen.
    Offenbar vermißt er mich ganz persönlich, ich gehe ihm offenbar wirklich ab, es ist eine richtige Trauer. Er kämpft immer noch, will es nicht wahrhaben.
    Und dann hat er immer das Beispiel der vaterlos (und eingeschränkt) vor sich hin lebenden Familie und einer sehr bedrängten Mutter. Und damit vergleicht er meine »Fortschritte« – alles: meine Freizügigkeit, Gelockertheit im Äußeren, auch in Form meiner scheinbaren Wahllosigkeit im gesellschaftlichen Umgang. Selbst mein Auto.
    All diese Anzeichen eines neuen Lebensstils betonen in seinen Augen bloß mein Entwachsensein, mein Verlorengegangensein. Jedes Anzeichen einer äußeren und Sinnes-Wandlung unterstreicht immer definitiver den Vater-Verlust. Er ist weg – sie bleiben.
    Wie soll er anders als mit Gerechtigkeit argumentieren, da er immer noch von seinem Festhalten an einem Vater und einer Mutter, also theoretisch: von einer Familie, ausgeht. Wenn er Vater und Mutter für sich in Anspruch nimmt, dann kann es ja nicht sein, daß bei Mutter zu Hause gespart wird, gleichsam fleischlos gegessen, ohne Überfluß jedenfalls, sagen wir: haushälterisch! Und umgekehrt vertritt der Vater für sich Ansprüche und Freiheiten, die in seinen Augen Luxus sind. Sein Meckern, sein Argumentieren mit Gerechtigkeit ist Ausdruck einer überforderten Kinderseele und einer Hilflosigkeit und vor allem Trauer.
    Und dann verkriecht er sich noch stärker in Land- und
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