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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Hochachtung
    Ihr
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    Stiller.
    Im Unterschied zu Schiwago oder Zeno Cosini eine doch eher knorzige Figur. Kein Eulenspiegel, kein Don Quichotte, kein Revolutionär, kein Künstler, kein Mann ohne Eigenschaften: ein Bürger. Ein Schweizer Bürger. Und das Verhältnis zur Frau ist unangenehm schwierig.
    Es scheint, daß das Tagebuch das Beste ist. Auch die literarische Form ist dort interessant. Das luftige Nebeneinander,
Geschiebe von Beobachtungsnotiz und Gedankensprung, Fabulieren, Einfällen, Überlegungen, Fragen. Der schöpferische Apparat.
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    London, Islington, Thebertonstreet 34
    Endlich den Schritt getan, den Schritt mit den im Köfferchen eingepackten Schreibmaterialien (Notizen, Entwürfen, durchgeschriebenen Passagen, Plänen – Materialien eben …) weg von der Zürcher Verstrickung und ins Fremde, Neue, ins Ausland. In eine andere Stadt. Den Schnitt getan.
    Das Abnabeln hat wahnsinnig lange gedauert. Glaube aber, daß ich mir viel Erleichterung eingehandelt habe. Freie Bahn. 
    Die kleine Beginnensschwierigkeit jetzt besteht darin, daß ich mich nicht versteife, sondern austrudle in den Ozean des ungeborgenen, brodelnden, wellenden Stoffes wie ein Boot, gedankenlos, ziellos vorerst, bis ich von selbst Kurs fasse …
    Welchen Faden zuerst greifen?
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    Die Russen haben einen Apparat auf der Venus gelandet. Die Exploration im Weltraum hat damit einen ungeheuren Schritt vorwärts gemacht.
    Die Russen feiern das 50jährige Jubiläum der Revolution. Überall auf der Welt Riesendemonstrationen gegen Johnsons Vietnamkrieg. Tausende von Rekruten werfen ihre Aufgebote weg. Also Desertion im großen Stil.
    Eine ganze Weltjugend beginnt sich gegen den Krieg einer Weltmacht aufzulehnen. Der Goodwill für Amerika schrumpft täglich mehr.
    Die Jugend hat sich in globalem Maßstab emanzipiert von den Vätern, der Tradition, der Geschichte etc., hat ein eige
nes Reich entworfen, ein Phantasiereich, einen Maskenball und ein Kostümfest in Permanenz, auf dem die Epochen der Erwachsenen in einem fastnächtlichen Verkleidungsspiel paraphrasiert und – wenn man will – ironisiert werden. Was ernst und bitter und historisch gewichtig war , dient den Jungen zu einem modischen Musée imaginaire. Sie nehmen nur die Requisiten der Geschichte, um sich zu verkleiden – zu eigenen Zwecken. Zu einer Aufführung, in der man Sex statt Krieg propagiert und Rauschgift-Träume, und auch von Afrika hat man bloß das Trancehafte zu eigenem Gebrauch (netter, entschärft) übernommen und in das Dauer-Beat-Vergnügen umgegossen. Die so aus allen Ecken und Winkeln der Erwachsenen-Welt zusammengeschmökerten und -gebrauten Elemente und Materialien werden in der neuen Aufmachung an die Erwachsenen verkauft und bringen Devisen und Reichtum.
    Während alldem (und während die alten Systeme wie das amputierte Weltreich England allmählich Pleite gehen), während sich die USA stur in diesen mörderischen Vietnamkrieg verrennen, während das infantile Kostümfest wütet … erforschen, nein: erobern die Wissenschaftler im Alleingang und unkoordiniert als ›Köpfe ohne Welt‹ ungeheure neuartige Lebensdimensionen,
    den Totalroboter,
    die Totalsteuerung des Menschen,
    den Kosmos als künftige Kolonie,
    das Ende der Krankheiten und das Ewige Leben.
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    Gott ist abgesetzt. An seiner Stelle die Bombe (wie Elias Canetti sagte).
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    Was soll da noch die Kunst respektive die Literatur? Die Schlager propagieren ein freundliches Kinderbiedermeier. Die populären Songs kommen in Science-fiction- und möglichst in Comic-Strip-Form daher.
    Die Künstler sehen beim besten Willen nicht mehr ein, wozu Bilder machen, für wen? Um das kleinbürgerliche Heim zu schmücken?
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    Daß viele zeitgenössische junge Avantgardisten keine bleibenden und das schöne Heim schmückenden Werke und Werte verfassen mögen, ist verständlich. Daß sie gegen das Wandbildchen sind. Daß sie lieber ein Feuerwerk, ein Happening in Szene setzen wollen, um wiederum etwas wie ein heutiges Lebensgefühl zu realisieren, etwas, das sich verbraucht, etwas Unästhetisches meinetwegen – ja. Aber etwas, das zumindest den Voraussetzungen nach heutig wäre … Im Hintergrund die Hoffnung, wenigstens den Versuch oder auch nur das Gestammel zu einer Replik
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