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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Kapuziner, alle mit ihrem Publikum, alle einzel
nen Brandredner brüllen sich manchmal über die Köpfe ihrer Zuhörermengen hinweg an. Dann wieder welche, die ihr Israel proklamieren … Aufklärer. Politische Redner, absurde Redner, Normale und Irre. Und Tausende von Leuten.
    Und irgendwie seltsam, dieser Anblick, man spürt, daß es eine Institution ist, ein Gewinn der Demokratie, und fühlt sich an die Französische Revolution erinnert. Wie der einzelne Citoyen seine Mitbürger unterrichtet, informiert, aufstachelt, umwirbt, Zetermordio und Untergang androht … Und wie die einzelnen Bürger mitmachen, Fragen stellen, diskutieren … Die erhobenen Zeigefinger. Etwas, das dem Fremden zuerst vorkommt wie ein Theaterstück. Wie aus einem Revolutionsstück, aber es ist Alltag. Und das in England. Wo die Königin sogar noch nach jedem Film das Publikum im Kino zum Aufstehen und zu einer Ehrbezeugung bringen kann.
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    Und etwas weiter vom Knäuel der Rednertribünen lagern in einer Herde, wie Tiere, wie sonderbare Tiere, wie fremde Menschenschau in einem Zirkus – Flower People , ganz junge Leute in den tollsten Maskeraden, die Mädchen mit Tüchern bis zum Boden, orientalisch bunt, die Jungen in allen Varianten zwischen Uniformstück und orientalischen Umhängen, mit Blumen, ungeheuerlichen Haarauswüchsen, geschminkt, alle aber eindeutig Passivität vorlebend. Ihre Parolen: Nichtstun, Nichtarbeiten, Liebe, Träume, Zusammenleben. Man denkt: Anderswo würden die von der Polizei aus dem Verkehr gezogen oder von den Autoritäten unter den Erwachsenen zur Arbeit geprügelt. Oder würden interniert. Hier können sie ihre These leben. Man geht hin, schaut sie an, spricht sie an, keineswegs schockiert … Toleranz.
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    Ãœbrigens war gleichzeitig am Trafalgar Square und um die amerikanische Botschaft die Anti-Vietnam-Demonstration. Zu Tausenden belagerten Leute aller Schichten die Botschaftsgegend. Zur Schlägerei kam es erst, als man die Botschaft zu stürmen suchte. Die Polizei war nicht bewaffnet, trotzdem gab es Verletzte (unter beiden Parteien). In Frankreich waren's 45 000, in Tokyo anderthalb Millionen. Gab's schon mal sowas? In Amerika beginnt die Ausbürgerung. Zahllose Jugendliche nehmen die Ausbürgerung in Kauf und wandern aus nach Kanada, London …
    Und Johnson will auf seinem starren Kriegskurs beharren.
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    Das freiwillige Obdachlosentum
    Bei uns in der Schweiz – ja wo leben denn die Hippies und Flower-Power-Leute? Die können ja gar nicht entkommen und verloren gehen, nehme ich an. Die gehen schön brav nach Hause und tragen ihre Maskerade als Bürgerschreck. Bei uns sind die Schäflein registriert.
    Aber hier in London – ich stelle mir vor, daß tagtäglich überall einige still desertieren, das heißt die Gesellschaft verlassen, austreten und sich wegstehlen. Wohin? Zu ihresgleichen, in ein Zusammenleben außerhalb der geltenden Gesellschaft. Die weltlichen Würden und Ziele werden aufgegeben. Verlassen werden Universitäten und Akademien, Schulen und Karrieren, verlassen werden die Wege und Geleise bürgerlicher Institutionen und Organisationen und Verbände.
    Massenfahnenflucht . Warum?
    Austreten, nur austreten. Weil jedes Drinbleiben als Partizipieren empfunden werden muß. Partizipieren an einer Welt, die sich Massenmorde leistet in Permanenz, den Weltraum mit nuklearen Vernichtungspotentialen spickt, aber bei allem eine prüde Geschlechtsmoral und Filmzensur propagiert.
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    Flucht in die Unschuld. In den Pazifismus als passiver Widerstand. In etwas – zugegeben – sehr Naives und Uneffektives. Ins freiwillige Clochardtum, in die freiwillige Obdachlosenexistenz
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    Eine Anti-Aktions-Haltung. Eine Antizivilisationshaltung. 
    Eine fernöstliche zeitlose Haltung.
    Nicht umsonst sind die äußerlichen Kennzeichen mit alldem verwandt und ist der ästhetische Stil sehr nah am Jugendstil.
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    Wenn man sich den einzelnen Gammler und Asozialen, den einzelnen Bettelmönch und Nazarener in seiner tollen Maskerade und Verwahrlosung mit den exzessiven Attributen von Haar- und Bartzöpfen, von Glöckchen um den Hals und unbedeckten Füßen, von exhibierter Wehrlosigkeit und Sanftheit etc. ansieht (von den Massen, die nur das Äußerlichste als Modehit mitmachen, jetzt einmal nicht zu
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