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Die Barbaren von Ragnarok

Die Barbaren von Ragnarok

Titel: Die Barbaren von Ragnarok
Autoren: Tom Godwin
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überdeckt werden konnte. John Humbolt, der am oberen Ende der Rampe stand, spürte sofort, daß viel mehr passiert sein mußte als nur die Zerstörung der Verteidigungsanlage.
    Er versuchte Lora in dem Gedränge der Frauen und Kinder und älteren Leute ausfindig zu machen und hielt nach der vertrauten roten Jacke Ausschau, aber er konnte sie nicht entdecken. Dann sah er den graubärtigen Dan Destry durch die Menge rudern und ging hinunter und dem breitschultrigen Alten entgegen, während unheilvolle Vorahnungen sich in seinem Magen zu einem harten, kalten Klumpen verdichteten.
    »Sie haben hundert Frauen und Kinder mitgenommen«, sagte Destry nach einem kurzen Händedruck. Er sah die unausgesprochene Frage in Johns Augen und fügte hinzu: »Lora war eine von ihnen – du wirst es dir bereits gedacht haben.«
    »Ja.« John blickte hinaus über die zertrampelte Schneefläche, wo die anderen in die Stadt zurückkehrten, kleine Familiengruppen, endlich wieder vereint. Aber er hörte kein Lachen und keine fröhlichen Zurufe. Zu viele Männer der ›Ragnarok‹ gingen jetzt allein, oder nur mit ihren Kindern. Und zu viele Frauen und Kinder mußten ohne ihre Männer, die im Krieg geblieben waren, in ihre Häuser zurückkehren.
    »Ja«, sagte er wieder. »Ich sah sie nicht.«
    Destry zog ein Blatt Papier aus seiner Pelzjacke. »Hier ist eine Liste der Entführten.«
    John Humbolt nahm die Liste und überflog die Namen. Er kannte sie alle. Auf Ragnarok kannte jeder jeden. Es waren die Namen von Frauen und Mädchen, aber auch zwanzig Jungen waren dabei, die ältesten von denen, die auf Ragnarok geblieben waren.
    »Wie ist es passiert, Dan?« fragte er. »Was für Leute oder Lebewesen waren es?«
    »Niemand hat sie gesehen. Sie arbeiteten mit Strahlen oder mit einem geruchlosen Gas, ich weiß nicht, was es war. Es warf uns alle um, ob wir in den Häusern waren oder draußen. Als wir wieder zu uns kamen, war das Gespensterschiff fort, und wo der Hügel mit dem Bunker gewesen war, sahen wir diesen Krater.«
    »Gibt es keine Spuren, die zeigen könnten, mit wem wir es zu tun haben?«
    »Nein. Das war vor dem Schnee, und das festgetrampelte Geröll unserer Straßen hält keine Fährte.«
    »Wir müssen heute noch eine Ratsversammlung abhalten«, sagte John. »Es ist nötig, daß wir einen Beschluß fassen, was wir tun wollen.«
    »Was wir tun wollen – oder wann wir es tun wollen?«
    John Humboldt blickte zurück zum gewaltigen schwarzen Leib der ›Ragnarok‹, ausgerüstet mit den mörderischsten Waffen, die das Imperium der Gern hatte bauen können, bereit für den Befehl, der sie auf die lange Reise zum großen Orionnebel schicken würde.
    »Es geht nur um das Wann«, sagte er.
    Der Schneefall verstärkte sich, als sie zur Stadt gingen, und bald war es völlig dunkel. Selbst die Flutlichtlampen der ›Ragnarok‹ konnten im dichten Schneetreiben nur die unmittelbare Umgebung des Schiffes erhellen.
    »Johnny!« Barbara Lake stand plötzlich vor ihm, ein dunkelhaariges Mädchen, dessen Ähnlichkeit mit der älteren Schwester so groß war – wenigstens durch den wirbelnden Schnee gesehen –, daß John für einen Augenblick ein Opfer der Illusion wurde, dies sei wirklich Lora. Dann sah er, daß die Sechzehnjährige ein Jagdmesser und eine Strahlwaffe am Gürtel hängen hatte und ihn aus ihren dunklen Augen fast herausfordernd anstarrte.
    »Sie haben Lora mitgenommen, Johnny«, sagte sie. »Wir werden was dagegen unternehmen, oder? Jetzt gleich, meine ich.«
    »Die ›Ragnarok‹ wird so bald wie möglich die Verfolgung aufnehmen«, sagte er.
    »Ich gehe mit.«
    »Wir werden sehen«, sagte er. »Du bist ziemlich jung.«
    »Ich bin alt genug«, sagte sie, »und Lora ist meine Schwester. Ich gehe.«
    Die Versammlung wurde im Rathaussaal der Stadt abgehalten, einem größeren Zimmer, das den vierzig gewählten Vertrauensleuten der Ragnaroker kaum genügend Platz zum Hinsetzen bot. Als John Humbolt hinter den Tisch trat, war ihm bewußt, daß diese Leute ihn jederzeit durch einfache Abstimmung als Anführer absetzen konnten. Man vertraute und gehorchte ihm nur so lange, wie er durch seine Handlungen und Entscheidungen bewies, daß er dieses Vertrauen verdiente. Seit er vor kaum einem Jahr gewählt worden war, lebte er mit diesem Wissen; es spornte ihn an und zügelte zugleich seinen persönlichen Ehrgeiz.
    Er eröffnete die Beratung in der gewohnten formlosen Manier und sagte: »Ich glaube, wir müssen so bald wie möglich die
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