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Die Auswanderinnen (German Edition)

Die Auswanderinnen (German Edition)

Titel: Die Auswanderinnen (German Edition)
Autoren: helga zeiner
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fast schon vernachlässigte. Er hatte ihr kein einziges Kompliment gemacht, hatte aber bei jedem noch so belanglosen Wort, das sie äußerte, an ihren Lippen gehangen und sie so eindringlich beobachtet, dass sie sich am liebsten vergessen und seine Fragen ehrlich beantwortet hätte. In letzter Sekunde, mit letzter Kraft, hatte sie es geschafft, diesem Impuls zu widerstehen und sich hinter ihrem üblichen Schutzwall zu verschanzen.
    John hatte ihren inneren Rückzug sofort bemerkt und - was sie ihm hoch anrechnete – respektiert. Damit hätte ihr kleiner Ausflug ins Gebiet natürlicher zwischenmenschlicher Beziehungen wieder beendet sein können. Es hätte sich eine freundlich-höfliche Gäste-Wirt Beziehung entwickeln können, so wie es sich gehörte, und wie sie es auch verkraftet hätte. Aber so war es nicht. Obwohl er seither nur ab und zu sanft an ihrer spröden Oberfläche gekratzt hatte und nur aus der Ferne an ihrem Leben teilnahm, wusste Jo Ann, dass dieser Kneipenbesitzer mit den strahlenden, wissenden Augen es schaffen könnte, zu ihr vorzudringen. Sie wünschte sich dies sogar, und das war in ihrer Lage unverzeihlich.
    Schon wieder brach Jo Ann der kalte Schweiß auf der Stirn aus. Allein der Gedanke an John verunsicherte sie auf merkwürdige Art und Weise. Ihr Herz klopfte schneller, weil sie nicht aufhören konnte, an ihn zu denken, und weil sie sich nichts anderes wünschte, als dass heute Mittwoch wäre.
    Noch hatte sie etwas Zeit sich zu entschieden, ob sie heute ausnahmsweise ins Pub gehen sollte, obwohl doch gar nicht Mittwoch war. Der Tag hatte sich endlos hingezogen. Durch den heftigen Regen der letzten Tage war die Mine zu einem einzigen Schlammloch geworden, das zu betreten gefährlich geworden war. Sie war, wie alle Bewohner von Lightning Ridge zum Nichtstun gezwungen. Gelangweilt legte sie sich auf ihr Sofa und grübelte vor sich hin.
    Plötzlich vernahm sie ein leises Geräusch. Es hörte sich an wie die Scharniere der Eingangstür, die jedes Mal sachte quietschten, wenn man sie öffnete. Sie sollten wirklich mal wieder geölt werden. Aber es konnte gar nicht die Tür sein! Jo Ann erwartete niemanden und hatte den klapprigen Metallrahmen abgeschlossen, als sie nachmittags ins Haus gegangen war. Oder etwa doch nicht? Bei diesem Gedanken schreckte sie hoch und lauschte angespannt. Hatte sie die Tür vielleicht tatsächlich nicht verriegelt? Der Wind heulte ums Haus und machte es fast unmöglich, sich auf andere Geräusche zu konzentrieren. Aber nein, da war nichts. Sie hatte sich bestimmt getäuscht. Aufatmend legte sie sich wieder zurück.
    Es mussten wohl einige Minuten vergangen sein, in denen sie mit geschlossenen Augen auf dem Sofa gelegen und an gar nichts gedacht hatte, als plötzlich eine grobe, widerlich feuchte Hand auf ihr Gesicht klatschte, ihr den Mund zuhielt und ihren Kopf mit brutaler Gewalt ins Kissen drückte. Jo Ann riss die Augen auf und erkannte voller Entsetzen den wuchtigen Mann, der sie mit seiner anderen Hand, daran hinderte, aufzustehen. Es war ihr Mann! Der Mann, der schon seit über dreißig Jahren aus ihrem Leben verschwunden war! Kurt, der doch eigentlich tot sein sollte! Kurt, der beinahe ihr Leben zerstört und Schuld daran hatte, dass sie sich keine Hoffnung auf eine Partnerschaft mit John machen durfte!
    Er schien sich überhaupt nicht verändert zu haben, obwohl seitdem so viele Jahre vergangen waren. Auch die ekelhaft säuerlich-scharfe Ausdünstung, die von seiner verschwitzten Kleidung ausging und ihr beißend in die Nase stieg, war noch immer die Gleiche. Jo Ann würgte unter seinem Zugriff und versuchte verzweifelt, sich zu befreien. Doch seine Hände waren wie zwei Schraubstöcke, die hart in ihr Fleisch griffen und ihr wehtaten. Sein Gesicht, verzerrt, schmutzverkrustet, hasserfüllt, war nur knapp über dem ihren, und sein heißer Atem streifte ihre Haut. Speichel troff aus seinem Mundwinkel und landete auf ihrer Wange. Sie wollte laut schreien, aber die erstickten Laute, die ihrem abgedeckten Mund entwichen, offenbarten nur ihre totale Hilflosigkeit. Trotzdem gab sie nicht auf. Kurt würde sie töten, wenn sie ihm nicht entkam, und sie wollte nicht auf diese Weise sterben. Nicht, nachdem sie ihm so lange entkommen war. Nicht nach all der Mühe und Plage, die sie auf sich genommen hatte, um ihn aus ihrem Leben zu verbannen. Wo war er all die Jahre über gewesen? Und warum kam er ausgerechnet jetzt zurück?
    Mit einem Mal wusste sie, dass er gekommen
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