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Die Auswahl. Cassia und Ky

Titel: Die Auswahl. Cassia und Ky
Autoren: Ally Condie
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zu.
    Er blickt mich fragend an.
    »Wie oft haben wir wohl die Tablette eingenommen, ohne dass wir uns daran erinnern?«, frage ich.
    »Einmal, soweit ich weiß«, antwortet Xander. »Sie setzen sie nicht oft bei normalen Bürgern ein. Ich war mir sicher, dass sie sie anwenden würden, nachdem der kleine Sohn der Markhams gestorben war, aber das haben sie nicht. Allerdings erinnere ich mich an einen Tag, an dem ziemlich sicher alle in der Siedlung sie geschluckt haben.«
    »Ich auch?«
    »Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen«, antwortet er. »Ich war nicht dabei, als du sie genommen hast. Ich weiß es nicht.«
    »Was ist passiert?«, frage ich.
    Xander schüttelt den Kopf. »Das kann ich dir nicht sagen«, flüstert er.
    Ich bedränge ihn nicht weiter. Ich habe ihm auch nicht alles gestanden – das mit dem Kuss auf dem Hügel, oder von dem Gedicht – und kann ihn daher schlecht um völlige Offenheit bitten. Die Wahrheit zu sagen, ist ein heikler Balanceakt: Wie viel will man teilen, wie viel für sich behalten? Welche Wahrheiten verletzen, zerstören aber nicht, und welche schlagen so tiefe Wunden, dass sie niemals verheilen?
    Also zeige ich stattdessen auf den Umschlag. »Was ist denn da drin? Außer den Tabletten?«
    Schulterzuckend antwortet er: »Nicht viel. Hauptsächlich wollte ich die Tabletten verstecken. Ansonsten sind einige Blüten von Neorosen darin, wie wir sie neulich gepflanzt haben. Sie werden sich nicht lange halten. Dann habe ich eines von den Hundert Bildern ausgedruckt, das, von dem dein Referat gehandelt hat. Auch das wird nicht lange halten.« Es stimmt: Das Papier aus den Terminaldruckern zerfällt schnell. Xander blickt mich traurig an. »Alles überdauert nur ein paar Monate, innerhalb dieser Zeit musst du es nutzen.«
    »Danke«, sage ich. »Für dich habe ich gar nichts. Alles ging so schnell heute Morgen …« Ich schweige, denn alle Zeit, die ich hatte, habe ich für Ky verwendet. Wieder habe ich ihn Xander vorgezogen.
    »Ist schon gut«, sagt er. »Aber vielleicht … könntest du …«
    Er sieht mir tief in die Augen, und ich weiß, was er will. Einen Kuss. Obwohl er über Ky Bescheid weiß. Xander und ich sind immer noch tief verbunden, und das ist unser Abschied. Ich weiß, dass es ein schöner Kuss wäre. Dieser Kuss würde ihm Halt geben, so wie mir der von Ky.
    Aber dieses eine Geschenk kann ich ihm nicht geben. »Xander …«
    »Ist schon gut«, sagt er noch einmal und steht auf. Auch ich erhebe mich, und er schließt mich fest in die Arme. Xanders Arme fühlen sich so warm, schützend und gut an wie immer.
    Wir halten uns ganz fest.
    Dann löst er sich von mir und geht den Bürgersteig entlang davon, ohne ein weiteres Wort. Er blickt sich nicht noch einmal um. Aber ich sehe ihm nach. Ich beobachte ihn auf dem ganzen Weg bis nach Hause.

    Die Reise zu unserem neuen Wohnort ist unkompliziert: mit dem Zug bis zur Stadthalle, dann Umsteigen in den Langstreckenzug zu den Landwirtschaftsgebieten der Provinz Keya. Die meisten unserer Habseligkeiten passen in einen kleinen Koffer pro Person; die wenigen Dinge, die nicht hineinpassen, werden später nachgeschickt.
    Als wir vier zur Airtrain-Haltestelle gehen, kommen Nachbarn und Freunde aus ihren Häusern, sagen uns Lebewohl und wünschen uns alles Gute. Sie wissen, dass wir umgesiedelt werden, aber nicht, warum, und es gilt als unhöflich, danach zu fragen. Als wir das Ende der Straße erreichen, sehen wir, dass ein neues Schild in den Boden gerammt worden ist: Garten-Siedlung. Ohne die Bäume gibt es die Ahorn-Siedlung nicht mehr. Es ist, als hätte sie nie existiert. Die Markhams sind fort. Wir ziehen weg. Alle anderen werden hier in der Garten-Siedlung leben. Schon wurden überall zusätzliche Neorosen in den Gartenbeeten angepflanzt.
    Die Schnelligkeit, mit der Ky, die Markhams und wir verschwunden sind, erschüttert mich zutiefst. Es ist, als hätten wir nie existiert. Und plötzlich erinnere ich mich daran, dass ich als Kind auf den Zug zurück nach Hause in die Stein-Siedlung wartete und Wege aus großen flachen Steinplatten zu unseren Häusern führten.
    Das ist schon mal passiert.
Diese Siedlung ändert immer wieder ihren Namen. Welche anderen schlimmen Erinnerungen liegen unter unseren Steinen, Bäumen und Blumenbeeten begraben? Dieses eine Mal, über das Xander nicht reden wollte, als wir alle die rote Tablette geschluckt haben – was ist da passiert? Und falls damals auch Leute weggegangen sind, wo hat man sie
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