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Die Aussortierten (German Edition)

Die Aussortierten (German Edition)

Titel: Die Aussortierten (German Edition)
Autoren: Udo Brandes
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Nichtraucher geworden, aber ab und zu gönnte er sich ein Zigarettchen) und die Beine auf dem Sofa hochlegte, klingelte das Telefon. „Verdammt noch mal, kriegt man in diesem Kaff denn nie seine Ruhe?“, fluchte er, schaltete aber das Video aus, ging zum Apparat und dachte dabei, dass dies der Fluch der kleinbürgerlichen Sozialisation sei: Ein schon fast zwanghaftes Bedürfnis, sich immer schön korrekt zu verhalten. „Aber ich werd das schon noch lernen, zu lügen und zu betrügen wie ein Bankvorstand“, murmelte er auf den Weg zum Telefon vor sich hin. Und muffelte dann „Ja, de Wall“ in den Hörer.
     
    „Du hast dich überhaupt nicht verändert“, hörte er eine weibliche Stimme. „Wahrscheinlich hattest du eine scheußliche Woche hinter dir und wolltest dir gerade mit Tee und Schokolade und einer Marlboro den Freitagskrimi angucken. Stimmt’s oder habe ich Recht?“
     
    „Fast. Judith? Bist du das?“
     
    „Ja! Und? Habe ich Recht?“
     
    „Ja, ich geb’s ja zu. Mensch, das ist ja eine echte Überraschung! Wie komme ich denn zu der Ehre? Das finde ich ja toll!“
     
    Judith war in seinen Berliner Studententagen eine Zeitlang seine Geliebte gewesen. Er hatte sie in der Unicafeteria kennengelernt. Sie hatte sich an seinen Tisch gesetzt, und so waren sie ins Gespräch gekommen. Sie studierte Medizin, und er Soziologie. Leider waren sie beide damals emotional nicht gerade in einer guten Verfassung gewesen, weshalb die Beziehung nach wenigen Monaten wieder in die Brüche gegangen war. Judith war dann nach einem weiteren Semester an die Heidelberger Universität gewechselt. Sie hatten dann immer noch mal wieder telefoniert, und sich auch noch ein paar Mal gesehen, weil Judith öfters eine Freundin in Berlin besuchte. Aber langsam aber sicher war dann der Kontakt abgebrochen. Als sie schon Assistenzärztin war, hatte er noch mal ein längeres Gespräch mit ihr, und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass ihre Sichtweisen und Weltanschauungen doch nicht mehr so nahtlos übereinstimmten. Mit seinem heutigen besser geschulten Soziologenblick war ihm klar, warum. Ihre unterschiedlichen Sozialisationen, sie süddeutsch, katholisch aus einer konservativen Familie des gehobenen Kleinbürgertums, der Vater ein Manager auf der mittleren Hierarchieebene eines größeren Unternehmens, er ein norddeutscher, evangelischer Heide aus einer kleinbürgerlichen Polizistenfamilie, machte sich zunehmend bemerkbar. Er hatte, wenn auch ohne sich dessen während des Studiums bewusst zu sein, Soziologie studiert, um sich von der kleinbürgerlichen Enge seines Elternhauses und dem kleinbürgerlichen Konservatismus auf dem Dorf zu emanzipieren. Sie dagegen war zwar nicht gerade konservativ, aber viel bürgerlicher als er und hatte im Grunde nie gegen die Gesellschaft rebelliert. Er wiederum hatte auch noch als Erwachsener Mühe, den Rebellen in sich abzulegen. Wobei man hinzufügen musste, dass er kein radikaler Linker war, sondern Gesellschaft und Staat stets von der Warte des Grundgesetzes aus kritisiert hatte. Seine Kritik richtete sich eben nicht gegen das Grundgesetz, sondern dagegen, dass das Grundgesetz aus seiner Sicht in der Praxis von Gesellschaft und Staat schon längst zum Märchenbuch verkommen war. Er war kein Linker, sondern etwas viel Schlimmeres, wie er immer gern sagte. Nämlich Demokrat. Aber der Rebell in ihm war natürlich nicht entstanden, weil das Grundgesetz immer mehr zur Makulatur wurde, sondern weil er unter einer autoritären Erziehung gelitten hatte. Und so war ihm der Rebell zur inneren Natur geworden. Bis er eines Tages begriff, dass sein fast zwanghaftes Bedürfnis zu rebellieren nicht ein Ausdruck innerer Freiheit war, sondern ganz im Gegenteil dokumentierte, dass er immer noch unter der Fuchtel seines einengenden kleinbürgerlichen Über-Ichs stand. Da entwickelte er langsam ein anderes Weltbild. De Wall freute sich ehrlich über Judiths Anruf und war neugierig zu hören, was der Anlass dafür war.
     
    „Weil ich dich einladen wollte. Ich werde demnächst 40, und wollte diesen Geburtstag gerne mit all den Menschen feiern, die mir etwas bedeuten. Und obwohl wir uns nun schon so lange nicht gesehen haben, warst du immer noch in meinen Kopf präsent.“
     
    „Mensch, das ist ja mal `ne schöne Nachricht. So was kriege ich selten zu hören. Danke! Das erfreut das Herz. Aber sag mal, wo lebst du denn jetzt. Und was machst du so?“
     
    „Ich bin eine stinknormale niedergelassene Ärztin
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