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Die Auserwählten

Die Auserwählten

Titel: Die Auserwählten
Autoren: A. J. Kazinski
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das schon? Würde sie die irdischen Gefilde doch in Kürze verlassen.

    ***

    14.35 Uhr – 1 Stunde, 17 Minuten bis Sonnenuntergang
    »Die Letzte. Die nimmt Ihnen die schlimmsten Schmerzen.«
    Die Schwester beugte sich über Niels, während er die großen Tabletten hinunterwürgte. Sie sah ihn an.
    »Ist heute Freitag?«, hörte er sich selbst fragen.
    »Ja, Freitag. Der erste Weihnachtstag. Sie haben lange geschlafen, Niels.«
    »Heute Nachmittag …«
    »Was ist heute Nachmittag, Niels?«
    »Wenn die Sonne untergeht.«
    »Ich habe gehört, dass Sie heute Morgen hier in der Klinik unterwegs gewesen sind.« Sie lächelte. Vielleicht wegen ihrer Wortwahl: ›unterwegs gewesen‹, als beschriebe sie einen läufigen Hund. »Ein Glück nur, dass man Sie so schnell gefunden hat. Das Ganze hat Sie wohl ziemlich verwirrt.«
    Niels antwortete nicht.
    »Wissen Sie was, Niels?«, fuhr sie fort. »Es kommt gar nicht so selten vor, dass Patienten aufwachen und total verwirrt sind. Das ist ganz normal.«
    Sie nahm seine Hand. Er sah aus dem Fenster – versuchte, die Sonne zu erblicken. Einen Augenblick lang glaubte er, ihre kräftigen Strahlen blendeten ihn, so dass er die Bäume nicht sehen konnte, doch dann realisierte er, dass das nur die Reflexion des Lampenlichts war. Er versuchte, etwas zu flüstern, aber sie hörte ihn nicht.
    »Sie müssen hierbleiben, Niels. Sonst können wir nicht auf Sie aufpassen.« Ihre Hand ruhte auf seiner. »Haben Sie etwas gesagt?«
    »Machen Sie das Licht aus.«
    »Ja, natürlich.«
    Sie schaltete die Lampe aus, die an das Bettgitter montiert war, und die Reflexion auf der Fensterscheibe verschwand, so dass er die rote Sonne sehen konnte, die groß und rund über den Bäumen im Park hing. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Einen Augenblick war er kurz davor, zu resignieren. Er dachte: Dann nimm mich doch mit in das Reich der Toten. Mach der ganzen Scheiße ein Ende.
    Die Schwester unterbrach seine Gedanken. »Draußen stehen zwei Herren, die gern mit Ihnen reden würden. Sie waren jeden Tag hier, seit sie hierhergekommen sind.« Sie stand auf.
    Sommersted und Leon betraten das Zimmer. Leon blieb in der Tür stehen. Wie ein Bodyguard für einen Gangsterboss. Sommersted kam näher.
    »Aber nur kurz«, sagte die Krankenschwester und ging.
    Sommersteds Blick verriet nichts. Weder Vertrautheit oder Mitgefühl, noch Kälte oder Verachtung. Sah man von der Eifersucht ab, die die Beziehung mit seiner Frau prägte, wäre Sommersted in Niels’ Augen gut als Roboter durchgegangen. Ein nur aus Kabeln und Feinmechanik bestehender Körper ohne jede Menschlichkeit.
    »Ehrlich gesagt, Niels. Ich verstehe das nicht.« Sommersted sprach ruhig und monoton. Wie ein Mann, der alle Zeit der Welt hatte und genau wusste, dass er nicht unterbrochen werden würde. »Aber Sie hatten Recht: Samstag ist in Venedig ein Polizist tot aufgefunden worden. Ermordet. Und er hatte – wie Sie gesagt haben – dieses Mal auf dem Rücken. Wir warten noch immer auf den abschließenden Bericht der Rechtsmediziner in Italien, aber es scheint sich um die Zahl fünfunddreißig zu handeln, die ihm möglicherweise auf den Rücken tätowiert wurde. Auch Interpol arbeitet jetzt mit Hochdruck an dem Fall.«
    Sommersted atmete tief durch, und Niels erlaubte es sich, darin eine Art Entschuldigung zu sehen. Entschuldigen Sie, dass ich mich geweigert habe, Ihnen zuzuhören . Niels bekam Augenkontakt mit Leon, aber es war so, als würde er einem toten Fisch in die Augen schauen.
    »Was ist mit Ihnen, Niels?«, fragte Sommersted unvermittelt mit einem forcierten Unterton in der Stimme. Er war Empathie nicht gewohnt.
    »Wie, mit mir?«
    »Wie geht es Ihnen? Der Oberarzt meinte, es wäre knapp gewesen. War das ein Zug?«
    »Ein Auto an einem Bahnübergang.«
    »Stimmt, ja richtig.« Sommersted nickte. »Gut, dass Sie die Mädchen retten konnten. Sie wären wohl getötet worden, wenn Sie nicht da gewesen wären. Erst die Familie in Nordvest und jetzt diese beiden Mädchen. Sie haben schon einige Leben auf dem Gewissen.«
    Niels wiederholte: »Auf dem Gewissen?«
    »Ja, dem guten Gewissen.«
    Sommersted schüttelte den Kopf und blickte zu Boden, als er fortfuhr: »Wie gesagt, schlau werden kann man aus der Sache ja nicht, aber wir haben für die nächsten Tage die Überwachung des Rigshospitals verstärkt und warten erst einmal ab.«
    »Nur heute Nachmittag. Bei Sonnenuntergang.«
    Niels sah aus dem Fenster. Die Sonne hatte begonnen, die Baumwipfel zu
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