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Die Attentaeterin

Die Attentaeterin

Titel: Die Attentaeterin
Autoren: Yasmina Khadra
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anderen Seite, die hintere Wagentür aufzureißen. Ich sehe, wie sie brüllen, Kommandos oder Schmerzensschreie, ich weiß es nicht, denn ich höre sie nicht. Neben mir starrt mich ein Alter mit entstelltem Gesicht verblüfft an; er scheint nicht zu merken, dass seine Gedärme frei liegen und sein Blut sich wie ein Sturzbach ins Einschlagloch ergießt. Ein Verwundeter kriecht mit einem riesigen rauchenden Fleck auf dem Rücken durch den Schutt, ganz nah an mir vorbei, stöhnend und verwirrt, wenige Meter weiter gibt er seinen Geist auf, mit aufgerissenen Augen, als könne er nicht fassen, dass so etwas ihm, ausgerechnet ihm, zustößt. Den beiden Phantomen gelingt es schließlich, die Windschutzscheibe einzuschlagen und ins Innere vorzudringen. Andere Überlebende kommen zu Hilfe. Mit bloßen Händen nehmen sie das brennende Fahrzeug auseinander, zertrümmern die Scheiben, mühen sich an den Türen ab und schaffen es schließlich, den Körper des Scheichs herauszuziehen. Ein Dutzend Arme trägt ihn fort, weit weg vom Brandherd, ehe sie ihn auf den Gehweg legen, während weitere Hände versuchen, seine brennende Kleidung zu löschen. Durch meine Hüfte zuckt ein stechender Schmerz. Von meiner Hose ist kaum etwas übrig, nur ein paar verkohlte Stofffetzen bedecken ein wenig Haut. Mein Bein liegt an meiner Seite, grotesk und grausig hängt es nur noch als ein Fetzen Fleisch an mir herunter. Mit einem Mal lassen mich all meine Kräfte im Stich. Ich habe das Gefühl, dass die Fasern meines Körpers sich lösen, sich zu zersetzen beginnen … Endlich dringt das Geheul eines Krankenwagens zu mir durch. Nach und nach setzt der Straßenlärm wieder ein, überflutet mich , betäubt mich. Jemand beugt sich über meinen Leib, tastet ihn oberflächlich ab und entfernt sich. Ich sehe, wie er vor einem verkohlten Körper niederkniet, ihm den Puls fühlt und dann den Bahrenträgern ein Zeichen gibt. Ein anderer Mann kommt herbei, fasst nach meinem Handgelenk, lässt es wieder fallen …
    »Der ist hinüber. Für den können wir nichts mehr tun …« Ich möchte ihn aufhalten, ihn dazu bringen, dass er noch mal nachprüft. Doch mein Arm versagt mir den Dienst, verleugnet mich. Mama, sagt da wieder das Kind … Ich suche meine Mutter inmitten des Chaos … Sehe nichts als Obstgärten, so weit das Auge reicht … die Obstgärten meines Großvaters … des Patriarchen … ein Land voller Orangenbäume, wo jeden Tag Sommer war … und einen Jungen, der hoch oben auf einem Bergrücken träumt. Der Himmel ist von transparentem Blau. Die Orangenbäume reichen ins Unendliche. Der Junge ist zwölf und hat ein zerbrechliches Herz. Aus lauter Verliebtheit möchte er, einfach, weil seine Zuversicht so groß ist wie seine Freude, den Mond wie eine Frucht anknabbern, überzeugt, er müsse nur die Hand ausstrecken, um alles Glück der Erde zu fassen … Und da, vor meinen Augen, und trotz des Dramas, das soeben die Erinnerung an diesen Tag für immer getrübt hat, trotz der Körper, die auf der Straße mit dem Tode ringen, trotz der Flammen, die das Fahrzeug des Scheichs vollends unter sich begraben, springt der Junge auf und läuft mit sperberflügelweit ausgebreiteten Armen durch Felder, auf denen jeder Baum zu einer Märchenwelt gehört … Tränen strömen über meine Wangen … »Wer immer dir gesagt hat, ein Mann dürfe nicht weinen, der weiß nicht, was es bedeutet, ein Mann zu sein«, verriet mir mein Vater, als er mich in Tränen aufgelöst im Sterbezimmer des Patriarchen fand. »Man muss sich nicht dafür schämen, dass man weint, mein Großer. Tränen sind das Edelste, was wir haben .« Da ich mich weigerte, Großvaters Hand loszulassen, hockte er sich vor mich hin und nahm mich in die Arme. »Es hilft gar nichts, noch länger hier zu bleiben. Die Toten sind tot und kommen nicht wieder, sie haben ihre Strafe gewissermaßen abgebüßt. Die Lebenden aber sind nur Gespenster, die ihrer Stunde voraus sind …« Zwei Männer heben mich hoch und packen mich auf eine Trage. Ein Krankenwagen kommt rückwärts herangefahren, mit weit offenen Türen. Arme ziehen mich ins Innere, befördern mich unsanft zu den Leichen. In einem letzten Aufbäumen höre ich mich schluchzen … »O Gott, wenn das hier ein grauenhafter Alptraum ist, dann mach, dass ich so schnell wie möglich aufwache …«

1.
    N ach der Operation kommt Ezra Benhaim, unser Direktor, zu mir ins Büro. Obwohl er keine sechzig mehr ist und neuerdings eine gewisse Leibesfülle zeigt, ist
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